Unsere gängigen Vorstellungen von „Massenkonsum“ sind in dreierlei Hinsicht fehlerhaft. Erstens denken wir sofort an Waschmaschinen und Autos, an Kühlschränke und Fernsehapparate - an Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder. Dabei hat der Massenkonsum eine viele längere (Vorlauf-)Geschichte: Er reicht nicht nur zurück ins 19. Jahrhundert, sondern „geht der Massenproduktion während der Industriellen Revolution sogar voraus“, sagt Frank Trentmann, Historiker am Birkbeck College der Uni London und Autor des detailreichen Standardwerks „Herrschaft der Dinge“*. Produktion und Verkauf von modischer Baumwolle im 17. und 18. Jahrhundert seien dafür nur ein Beispiel.
Zweitens führt der Begriff in die Irre. „Massenkonsum“ klingt nach Stadion und Arena, Kaufhaus und Schlussverkauf, nach regierten, willenlosen Kundenbürgern, die sich leicht steuern und manipulieren lassen - an diesem Zerrbild haben so unterschiedliche Autoren wie Elias Canetti, Theodor W. Adorno, Michael Foucault oder Neil Postman ihren Anteil, die mündige Citoyens wahlweise den Medien, dem Konsum, dem Konformismus und der Kulturindustrie ausgeliefert sahen - und die dabei die Individualität mündiger Nachfrager (der Bürger, Kunden, Konsumenten) dramatisch unterschätzten.
„Massenkonsum“ heißt aber nicht: Verkauf von Fabrikware. Sondern immer: Verkauf von individuell nachgefragter Fabrikware. Oder anders, zugespitzter formuliert: Wir haben es beim Phänomen des „Massenkonsums“ heute weniger denn je mit einem homogenen, von Produzenten werbeindoktrinatorisch geformten Konsumentenklumpen zu tun. Sondern mit Kunden, die mit den Praktiken und Psychologismen der Werbung wohl vertraut sind - die höchstpersönlich und zuweilen sehr bewusst konformistische oder nonkonformistische Konsumentscheidungen treffen.
Drittens schließlich wird „Massenkonsum“ zu eng, zu ökonomisch gedacht, auch darauf richtet Trentmann seinen Blick: Wir neigen dazu, ihn allein als segensreiche Folge der Sozialen Marktwirtschaft post 1945 zu begreifen. Dabei verdankt sich die Entgrenzung des Konsums nicht nur dem ordnungspolitischen Rahmen des Staates für die Akteure der Wirtschaft. Sondern auch dem Staat selbst als einem Akteur der Wirtschaft: Sozialgesetzgebung und zinsgünstige Baukredite - vielfältige Entlastungen für den „Fälle der Fälle“ - schufen überhaupt erst so etwas wie Spielraum fürs verdiente Geld.
Wenn nun aber bereits unsere Annahmen vom Kaufverhalten der Vergangenheit irreführend sind - wie wollen wir dann die Konsumrevolution verstehen, die uns durch die Geschäftsmodelle der Digitalkonzerne ins Haus steht? „Start with the customer and work backwards“, so lautet das Mantra von Amazon-Chef Jeff Bezos. Was nichts anderes bedeutet, als: Der Konsument ist nicht mehr nur König, sondern er diktiert auch die Bedingungen. Unternehmen wandeln sich im Plattform-Kapitalismus zu Catering-Betrieben ihrer Kunden oder gehen unter. Entsprechend erschafft die digitale Avantgarde - Netflix, Spotify, Apple, Amazon - möglichst hermetische Konsumwelten und Medienuniversen: emotionale Ankerplätze für Dauerabo-Kunden, denen Zugang wichtiger ist als Eigentum, denen das Benutzen über das Besitzen geht.
*Frank Trentmann, Herrschaft der Dinge, Deutsche Verlags-Anstalt, 2016, 40 Euro
The Winner Takes It All
Es ist eine Konsumrevolution, die ausgelöst wird durch junge, optionshungrige Kunden, die nicht immer nur Güter kaufen, sondern Services auf Zeit pachten wollen. Sie sind sozialisiert im Umfeld digitaler Möglichkeiten und allzeit vernetzt; sie suchen Erlebnisse statt Statussymbole, dingliche Lebensabschnittspartner statt Qualität auf Lebenszeit – und sie strafen Anbieter mit Liebesentzug, sobald ihnen etwas nicht passt. Entsprechend glatt und weich ist der rote Teppich, den Produzenten und Händler ihnen ausrollen. Die Konsumgemeinde will ständig bespielt, begeistert und neu erobert werden – denn wer sich dem Kunden erst mal als Partner empfohlen hat, zum Bestandteil seines Alltags wurde, zur Beförderung seines guten Lebensgefühls beiträgt, kann auf seine Treue setzen, wenn auch jederzeit kündbar, ganz so wie in Partnerschaftsfragen oder im Arbeitsleben: (Nur) solange die Bedingungen okay sind und das Gesamtpaket stimmt, ist die Beziehung perfekt - bis auf Weiteres, versteht sich: „Loyalität to go“.
Aber hinter Bezos’ Kundenoffensive steckt nicht nur die Vorstellung, Konsumenten mit datenbasierten Services immer perfekter bedienen, sie gleichsam algorithmisch umfangen, auf Dauertreue verpflichten zu können in einer Konsumwelt der unbegrenzten Möglichkeiten. Sondern sie hat auch zur Folge, dass das Macht- und Interessenverhältnis zwischen den Wirtschaftsakteuren - zwischen Unternehmer, Mitarbeiter und Kunden - sich ändert.
Seit den Achtzigerjahren lässt sich in westlichen Industriegesellschaften, nicht erst seit den Forschungen von Thomas Piketty, eine klare Akzentverschiebung zugunsten der Kapitaleigner beobachten: Ihre Profite sind im Vergleich zu den Profiten von Mitarbeitern und Kunden überproportional gewachsen. Ein Trend, der sich durch die Digitalisierung rasant beschleunigt, weil Unternehmen immaterielle Güter in mit geringen Herstellungs- und ohne Vertriebskosten in einer einzigen Sekunde weltweit lancieren und vertreiben können - und weil unternehmerischer Erfolg sich in der datenbasierten Plattform-Ökonomie nicht mehr linear und sukzessive, sondern plötzlich und infektiös ausbreitet: Mit jedem Nutzer einer Plattform wächst auch für jeden potenziellen Nutzer der Wert der Plattform, und am Ende heißt es: The Winner Takes It All. Zu den größten aller Gewinner zählen derzeit fraglos Mark Zuckerberg (Facebook), Jeff Bezos (Amazon) und Reed Hastings (Netflix): mit mehreren hundert Millionen Abonnenten.
Kurzum: Die Akzentverschiebung in Richtung Kapital hat sich damit verschärft - und sie ist in den vergangenen Jahren zugleich einhergegangen mit einer Akzentverschiebung in Richtung Konsument. Bleibt nur die Frage, was mit den Interessen der Mitarbeiter geschieht. Jeff Bezos hat die Frage für sich längst beantwortet, wie man weiß: Dass er die Mitarbeiter übertrieben teilhaben lässt am Unternehmenserfolg, kann man nun wirklich nicht behaupten.
Im Gegenteil: Er sieht in ihnen ein Kostenfaktor, den es im Interesse der Expansion von Kapital und Kundenstamm zu minimieren gilt. Kein Wunder, dass es da manchem beim Blick in die Zukunftskugel schon ganz blümerant zumute wird: Denn wer soll die Güter und Services kaufen, mit denen die Digitalkonzerne Kunden hofieren, die sie als Mitarbeiter entweder nicht wertschätzen - oder gar nicht mehr erst brauchen?
Die Lösung sehen manche, etwa Facebook-Gründe Mark Zuckerberg, aber auch der Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser, in einer Ruhigstellung der Abgehängten durch Zahlung eines bedingungslosen Grundeinkommens: Niemand muss mehr arbeiten, um sich mit dem Minimalsten versorgen zu können.
Die Bedürfnisse Aller sind gestiegen
Dahinter steckt nicht nur das böse Vermutung, dass eine Mehrheit vom technologischen Wandel nicht profitieren wird. Sondern auch die Idee einer Sozialisierung des Konsums, um die Privatisierung der Gewinne nicht zu gefährden. Anders gesagt: Der ordnungspolitische Staat der Zukunft soll künftig nicht mehr faire Wettbewerbsbedingungen garantieren. Sondern Digitalmonopolisten dabei helfen, das Konsumniveau zu erhalten.
Der Konsument als Subventionsadressat des Sozialstaates - es wäre vor allem eine Niederlage des Kapitalismus. Zur Erinnerung: Zu einem ökonomischen Faktor stieg der Konsument erst im Laufe des 19. Jahrhunderts auf. Die schottischen Ahnherren der Nationalökonomie (Thomas Malthus, David Ricardo, Adam Smith) argumentieren vorher, dass es sich bei der proletarischen Armut um ein inevitable law of nature handelt. Lohnerhöhungen für die less fortunate würden nicht den Lebensstandard heben, sondern nur dazu führen, dass die Arbeiter mehr Kinder in die Welt und dadurch das Überleben aller aufs Spiel setzten. Sie erblicken in der Arbeit die Quelle des Wohlstands und sind der Auffassung, dass Investitionen das wirtschaftliche Rad in Schwung halten - weshalb der Lohn der Arbeit gerade so hoch sein soll, dass der Arbeiter davon leben und eine Familie grünen kann.
Erst später verstanden Kapitalisten, dass nur solvente Proletarier ausreichend Waren kaufen können.
Verstanden Wirtschaftswissenschaftler, dass der Preis einer Ware nicht nur von der Arbeit abhängt, die in ihr steckt – sondern auch davon, welchen Wert ihr ein Konsument beimisst. Tatsächlich war die Promotion des ausgebeuteten Arbeiters zum Arbeitnehmer und Kunden das eigentliche Wunder der industriellen Revolution: „Die Bedürfnisse Aller sind gestiegen“, stellte der sozialreformerische Ökonom Gustav Schmoller bereits 1864 fest: „Selbst die untersten Klassen können sich Genüsse erlauben, an die sonst kaum Fürsten und Könige denken konnten.“ Der Rest ist Konsumexpansion, sind Waschmaschine, Zweitauto und Computer, sind Kaufhäuser, Versandhändler und Werbeversprechen. Mit dem Unterschied, dass Bedürfnisse heute weniger denn je gedeckt, vielmehr geweckt werden müssen.
Auf dem Spiel des Digitalkapitalismus steht daher nicht zuletzt die mit sich selbst identische Figur des „Staatsbürgers“, „Arbeitnehmers“ und „Verbrauchers“, die auf dem Boden der Sozialen Marktwirtschaft tüchtig Geld verdient und ausgibt - eine zunehmend homogene „Mittelschicht“, die am Ideal der Arbeit und an der Prämierung von Leistung Stabilität gewann. Wenn der „Massenkonsum“ der Zukunft so organisiert ist, dass wenige Digitalkonzerne für die Bedarfsweckung zuständig sind und der Staat für die Bedarfsdeckung - dann bliebe dabei vor allem der Markt auf der Strecke.