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Tauchsieder

Stabschef gesucht für die Philharmoniker

128 hoch spezialisierte Fachkräfte veredeln Spitzenerzeugnisse der klassischen Musik - mit diesem simplen Geschäftsmodell sind die Berliner Philharmoniker zum Weltmarktführer aufgestiegen. Montag wählt das Ensemble seinen neuen Chefdirigenten.

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Sir Simon Rattle dirigiert die Berliner Philharmoniker Quelle: dpa

Meine Güte, ein Chefdirigent. In Wien halten sich die Philharmoniker aus Prinzip keinen, nach London holen sie 2017 den Briten Simon Rattle heim. In Los Angeles hat das venezolanische Energiebündel Gustavo Dudamel beiläufig bis 2022 verlängert, und ins Amsterdamer Concertgebouw hält 2016 der dezente Italiener Daniele Gatti Einzug. Kein Aufhebens nirgends. Denn ob Rattle, Gatti, Dudamel oder Riccardo Muti, Daniel Harding, Paavo Järvi - es hätte da und dort der eine oder andere sein können, weiß Gott, sehr gut sind sie alle, einander überragend sind sie nicht. 

McKinsey und die Globalisierung haben auch vor der klassischen Musik nicht haltgemacht. Die einst so charakteristischen Klangkörper in Amerika, Mitteleuropa und Russland, abgerichtet auf die Vorlieben von exzentrischen Pult-Tyrannen wie George Szell, Sergiu Celibidache oder Arturo Toscanini, sind heute rundgeschliffen und poliert - powerhouses of excellence mit technisch bestens geschulten Mitarbeitern, die unter wechselnden Chef-, Gast- und Ehrendirigentenstate-of-the-art designte Premiumprodukte am Fließband produzieren.

Entsprechend hat man sich den Prinzipal eines Champions-League-Orchesters heute als kollegialen Leader vorzustellen, als eine Mischung aus Aufsichtsrat, Start-up-Unternehmer und globetrottendem Stabkünstler. Viele Dirigenten stehen heute mehreren Orchestern vor. Sie verkaufen dem Publikum attraktive Ereignismusik, kurbeln das Merchandising an und positionieren sich als Weltmarke. Sie bringen keine Visionen mit an ihre Wirkungsstätten, sondern Projekte. Sie erfüllen sich keinen Lebenstraum, sondern ziehen ihren Businessplan durch.

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Einigkeit herrscht über die Uneinigkeit

Allein bei den Berliner Philharmonikern ist die Wahl eines Chefdirigenten noch immer Hochamt, Konzil und Konklave; das Orchester kürt seinen Pontifex und belehnt ihn auf Lebenszeit mit dem Erzstift der klassischen Musikwelt, so jedenfalls sieht man das hier: Berlina aeterna. Der legendäre Herbert von Karajan (1954-1989) hat die musizierende Hundertschaft dreieinhalb Jahrzehnte lang auf seinen laufsteg-schicken Luxussound hin verpflichtet; seine Nachfolger, Claudio Abbado (1989-2002) und Simon Rattle, bringen es zusammen auf fast drei Dezennien. Kein Wunder, dass sie alle - das Stammpublikum, das Feuilleton, das Orchester selbst - noch immer in Ären und Epochen denken und sich die Köpfe darüber zerbrechen, wer Rattle 2018 als künstlerischer Leiter nachfolgen und das Orchester in die Zukunft führen soll. 

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Einig ist man sich nur in seiner Uneinigkeit. Ein tiefer Riss geht durch die Stadt, das Auditorium und die Instrumentengruppen des stolzen Ensembles. Man streitet über das schmale Repertoire des einen Kandidaten sowie über die mangelnde Reife des anderen, über das cäsarische Auftreten des dritten und die kränkelnde Natur dessen, auf den sich ansonsten alle einigen könnten - vor allem aber über den spürbaren Verlust dessen, was man jenseits aller instrumentalen Kompetenz die "Seele" des Orchesters, seine "Klangkultur" nennt.

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