Der Fall ging 2006 wegen seiner Ekligkeit durch die internationale Presse. Ein amerikanisches Ehepaar hatte einen abgetrennten Finger in einem Chili-Gericht platziert, um die Fastfood-Kette Wendys zu erpressen. Statt des erhofften Schadenersatzes hagelte es empfindliche Strafen. Richter Edward Davila verurteilte das Paar zu mindestens neun beziehungsweise zwölf Jahren Gefängnis. Die Fastfood-Kette hatte wegen der Medienberichterstattung einen Schaden von mindestens 2,5 Millionen Dollar beklagt. Das Paar habe seinen „moralischen Kompass“ verloren und sei „von Gier und Geiz“ geleitet gewesen, wetterte Davila bei der Urteilsverkündung.
Am Freitag muss Davila, inzwischen 70 Jahre alt und für Nordkalifornien zuständiger Bundesrichter, in seinem Versammlungssaal im Silicon Valley ein weiteres Urteil sprechen, das weltweit Schlagzeilen machen wird. Wieder geht es um Gier, Moral und um Verluste – in weitaus größerer Höhe, mehrere Hundert Millionen Dollar. Diesmal geht es nicht um einen Finger, sondern um einen Tropfen Blut – um den bislang größten, aufgedeckten Betrugsskandal des Silicon Valley und das „Wunderkind“ dahinter, die Studienabbrecherin und Start-up-Gründerin Elizabeth Holmes – Gründerin des Blutanalyse-Unternehmens Theranos.
Im Januar sprach eine Jury die Silicon-Valley-Unternehmerin, die sich einst wie Apple-Gründer Steve Jobs in schwarze Rollkragen-Pullis kleidete und auf den Titelseiten der US-Wirtschaftsmagazine Forbes und Fortune prangte, des Betruges an ihren Investoren schuldig. Darunter solche bekannten Namen wie die Walton-Familie, Eigentümer der Handelskette Wal-Mart, der mexikanische Multimilliardär Carlos Slim, Medientycoon Rupert Murdoch, Oracle-Gründer Larry Ellison und der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger. Letzterer saß sogar im Aufsichtsrat von Theranos, gemeinsam mit Amtskollegen George Shultz und dem ehemaligen US-Verteidigungsminister James Mattis. Das Politiker-Trio verlieh dem Start-up, das die Stanford-Studienabbrecherin Elizabeth Holmes 2003 im zarten Alter von 19 Jahren gegründet hatte, Glanz und Glaubwürdigkeit. Holmes, so ihre Geschäftsidee, wollte nur einen Blutstropfen verwenden, um „mehr als tausend Labortests“ durchführen zu können – von Cholesterol bis hin zu Antikörpern von HIV und Krebs. Denn, so begründete Holmes, „ich habe Angst vor Spritzen.“ Bei ihrer Methode hätte ein kleiner Stich in den Finger genügt. Ihr extra dafür entwickeltes Analysegerät „Edison“ werde, „die Medizin revolutionieren“. US-Präsident Barack Obama zeichnete sie für ihre Vision aus.
Das Problem: Zwar offerierte Theranos tatsächlich mit der US-Drogeriekette Walgreens in deren Geschäften Bluttests. Doch die Technologie funktionierte nicht, weshalb Theranos auf Analysegeräte des Konkurrenten Siemens zurückgriff. Der Wall Street Reporter John Carreyrou bekam davon Wind, sprach mit Theranos-Kritikern wie dem Stanford-Biochemie-Professor John Ioannidis und Eleftherios Diamandis, einem Professor für Biochemie an der Universität von Toronto. Carreyrou brachte den Fall trotz vieler Einschüchterungsversuche 2015 ins Rollen, unterstützt von Theranos-Mitarbeiter Tyler Shultz, einem Enkel von Aufsichtsratsmitglied George Shultz. Holmes versuchte derweil, mit weiteren großen Namen entgegenzusteuern. Im Juli 2015 besuchte Joe Biden, damals US-Vizepräsident, das Hauptquartier von Theranos im Silicon Valley, und schwärmte davon wie „inspirierend Elizabeth ist“.
Inzwischen ist der Theranos-Skandal mehrfach verfilmt worden. Trotz der Verurteilung von Holmes tobt im Silicon Valley noch immer die Debatte, ob die Unternehmerin tatsächlich eine eiskalte Betrügerin ist oder eine unbelehrbare Optimistin. Die einfach unbeirrbar dem Silicon Valley Slogan „Fake it, till you make it“ – ungefähr, „Schummele, bis es klappt“ – folgte. Und trifft nicht auch Investoren eine Schuld, die anscheinend nie genau prüften, was sich hinter dem mysteriösen Testgerät, benannt nach dem legendären amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison, eigentlich verbarg? Und Holmes Erklärungen abnahm, dass man wegen des Schutzes von Geschäftsgeheimnissen keine Prüfung von unabhängigen Wissenschaftlern erlauben könne. War es die Gier nach einem milliardenschweren Börsengang von den Aufsichtsratsmitgliedern Shultz, Kissinger und Mattis, die ihre Sinne vernebelte, oder einfach nur Fahrlässigkeit?
Der Silicon-Valley-Wagnisfinanzierer Tim Draper, ein Freund von Holmes Eltern und lange ein Mentor der Unternehmerin, ist bis heute davon überzeugt, dass Holmes zu Unrecht verteufelt werde. Draper, der unter anderem den Elektroautohersteller Tesla mitfinanzierte, hält sie für unschuldig. Sie sei einfach nur sehr ehrgeizig gewesen, was Investoren von Gründern erwarten. „Einige Unternehmen schaffen es, andere eben nicht“, so der Wagnisfinanzierer. „Ihre Ideen könnten Millionen von Leben über die nächsten Jahrzehnte retten“, ist Draper immer noch überzeugt. Es sei eine „Travestie“, wenn sie eingesperrt würde.
Der Holmes-Ankläger Robert Leach sieht das anders. Er fordert 15 Jahre Gefängnis und Schadenersatz in Höhe von rund 800 Millionen Dollar. Der Fall Theranos sei nicht nur einer der spektakulärsten Betrugsfälle des Silicon Valley. Auch die Gesundheit von Menschen, nämlich jenen, die Theranos Bluttests vertrauten, sei aufs Spiel gesetzt worden.
Richter Davila hat nun die schwierige Aufgabe, das Strafmaß zu verkünden. Vor ihm liegt ein 82-seitiges Memorandum von Holmes Verteidiger Kevin Downey. In ihm beschwört der Anwalt den Richter, Milde walten zu lassen und höchstens 18 Monate Hausarrest zu verhängen. Holmes, so argumentiert er, sei eine liebevolle und fürsorgende Mutter – sie soll nach der Geburt eines Sohnes im Juli 2021 inzwischen zum zweiten Mal schwanger sein – und alles andere als das Zerrbild, dass „die Medien von ihr gezeichnet haben“.
Tatsächlich habe sie von ihren angeblichen Verbrechen, anders als öffentlich behauptet, nie profitiert, so Downey. Die neun Milliarden Dollar, die Investoren einst Theranos zuschrieben, hätten nur auf dem Papier existiert. „Elizabeth hätte Anteile für Hunderte Millionen Dollar verkaufen können, aber sie hat es nicht getan“, so ihr Anwalt. Von 2010 bis 2015 habe sie zwar insgesamt 1,5 Millionen Dollar als Gehalt bekommen. Aber nur, weil der Aufsichtsrat es ihr nicht genehmigte, diese in Form von Anteilen zu beziehen. Seit ihrer Verurteilung habe sie sich als Krisenberaterin für Vergewaltigungsopfer zertifizieren lassen und über 500 Stunden damit verbracht, sich um Opfer zu kümmern. Und Downey wird ganz aktuell in seiner Argumentation, dass Investoren nicht unschuldig seien. Er zitiert Samuel Bankman-Fried, den ehemaligen Chef der Kryptowährungsbörse FTX. Demnach seien Wagnisfinanzierer vor allem von Hypes getrieben und der Angst, gute Gelegenheiten zu verpassen.
Friedman zierte wie Holmes einst die Titelseite von Forbes und galt als „Krypto-Wunderkind“. Vergangene Woche ist sein Krypto-Imperium zerbrochen, sein 26 Milliarden Dollar Vermögen zerstoben. Nun wird der Sohn von zwei Stanford-Professoren, der im Silicon Valley aufwuchs, beschuldigt, mit riskanten Transaktionen Gelder seiner Kunden vernichtet zu haben. Bewahrheitet sich das, hat der Fall noch eine größere Dimension wie Theranos.
Lesen Sie auch: Das Krypto-Chaos – Vier Lehren aus dem FTX-Crash
132 Leute haben an Richter Davila geschrieben, um Milde für die inzwischen 38jährige Unternehmerin gebeten. Darunter US-Senator Cory Booker, ebenfalls Stanford-Absolvent und ein Freund von Holmes, der glaubt, dass sie trotz Fehler, „die Welt zu einem besseren Platz machen kann.“
Und William Foege, der ehemalige Chef der Seuchenschutzbehörde CDC. Er bittet Davila, eine Möglichkeit zu finden, „dass Elizabeth ihre Fähigkeiten einsetzen kann, um der Allgemeinheit zu helfen. Im Gefängnis kann sie das nicht tun.“
Ankläger Leach hat sich in seinem Memorandum auf 46 Seiten beschränkt. Für ihn ist die Sache glasklar: Holmes sei nicht gescheitert, wie andere Unternehmer. „Sie hat schlicht gelogen.“ Er zieht Fälle wie den von Bernie Ebbers heran. Der ehemalige Chef des Telekommunikationsunternehmens WorldCom war wegen Bilanzbetruges in Höhe von elf Milliarden Dollar zu 25 Jahren Haft verdonnert worden. Will heißen, er hätte statt 15 Jahren Haft auch wesentlich mehr fordern können.
An Bundesrichter Davila liegt es nun, festzulegen, was schwerer wiegt: Eine Erpressung mit einem abgeschnittenen Finger oder ein Lügengebäude mit einem Blutanalysegerät. Gier spielt in beiden Fällen die Hauptrolle.
Lesen Sie auch das Interview mit „Wall Street Journal“-Redakteur John Carreyrou: „Elisabeth Holmes wollte weiblicher Steve Jobs sein“