Tourismus Wie Touristen die Städte übernehmen

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Eine Branche ist überfordert

Gewalttätige Proteste, politische Unwägbarkeiten – angesichts solcher Probleme fänden in anderen Industrien wohl längst Krisengipfel, Konferenzen, weltweit orchestrierte Aktionen statt. Der Touristik ist bisher aber nur eines eingefallen: Sie zieht die Preise an. So verlangen immer mehr Ziele von jedem Reisenden bis zu vier Euro pro Tag Tourismusabgabe. Gleichzeitig setzen die Reisekonzerne ihre Hotelpreise herauf – und hoffen, dass weniger, aber spendablere Gäste kommen. „Wir können die Zahl der Reisenden ja nur bedingt begrenzen, indem wir uns nach den Hotelkapazitäten richten“, sagt Hans Müller, oberster Mallorca-Repräsentant bei Europas Ferienkonzern Thomas Cook. Schuld sind aus der Sicht der Branche die neuen Konkurrenten, allen voran die Ferienwohnungsvermittler Airbnb oder Homeaway.

Das mag nicht falsch sein. Für die klassischen Anbieter wird die Situation dadurch aber nicht besser. TUI schickt ihre oberste Nachhaltigkeitsmanagerin Jane Ashton vor. Auch sie wiederholt dieselbe Erkenntnis: „Das Thema wird angetrieben durch den schnellen Aufstieg der Sharing Economy.“ Diese lockt selbst auf den Balearen und Kanaren fast so viele Urlauber in Privatwohnungen wie die Meister des Massentourismus in ihre Hotels in den Touristenregionen. „Und Betreiber von Ferienwohnungen entkommen derzeit der Pflicht, die Touristensteuer vom Gast zu kassieren und an die Lokalregierung abzuführen“, sagt Müller.

Doch für Branchenkenner wie Alex Dichter, Tourismusfachmann der Beratung McKinsey, sind TUI, Thomas Cook und ihresgleichen ebenso schuldig an den Zuständen wie die Onlineangreifer. „Gerade der Mangel an Planung ist der wichtigste Grund, warum Overtourism zum Problem wird“, sagt er. Und aus Sicht von Holidaycheck-Chef Hesse könnten die Veranstalter vor allem vorbeugen – indem sie sich auf ihre Stärke, die Kundenbindung, besinnen. TUI und Co. sollten gezielt durch Beratung und attraktive Preise weniger überlaufene Ziele den Kunden schmackhaft machen. Griechenland statt Spanien eben oder das von Kanälen durchzogene elsässische Colmar statt Venedig.

In Amsterdam ist Bürgermeisterin Ollongren schon einen Schritt weiter. Sie hat Mitstreiter gefunden. „Wir können das Wachstum steuern, wenn wir es richtig machen“, sagt dort Stadtvermarkter van der Avert. Er will, dass Politik, Reisekonzerne und lokale Wirtschaft zusammenarbeiten. Seine I-Am-sterdam genannte Organisation heißt deshalb Bewohner, Verwaltung und Unternehmen willkommen, sich einzumischen. Einfach ist die Problemlösung nicht, haben sie schnell festgestellt. Der Vorschlag, den Zuzug der Touristen zu begrenzen, konnte etwa nicht umgesetzt werden. Denn mehr als die Hälfte sind Tagesgäste aus dem Rest der Niederlande. Die abzuweisen würde zu politischem Ärger führen.

Dafür wollen sie gemeinsam bei I-Am-sterdam die Besucher nun zu neuen Zielen statt immer nur zu den Grachten und dem Anne-Frank-Haus lotsen. Jegliche Werbung für die Innenstadt hat die Initiative deshalb gestoppt. Stattdessen verweist sie nun über Facebook, Instagram oder Twitter auf Viertel wie das moderne Noord. Die Organisation arbeitet mit angrenzenden Gemeinden zusammen. Gemeinsam haben sie sich ein neues Konzept ausgedacht: Die für Ausländer oft kompliziert klingenden Orte wie Noordwijkerhout heißen neuerdings Amsterdam Beach, Amsterdam Flowers oder Amsterdam Castles – und Amsterdam gibt seinen Besuchern vergünstigte Tickets für die Fahrt ins Umland gleich mit.

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