Sechs Stunden nach dem Bombenanschlag auf den Flughafen Istanbul Atatürk in der vorigen Woche zeigte Binali Yıldırım Führungsstärke. Kaum waren um drei Uhr früh die Opfer versorgt und die Trümmer weggeräumt, verkündete der türkische Ministerpräsident: „Seit 2.22 Uhr läuft der Betrieb wieder normal.“
Temel Kotil, Chef von Turkish Airlines, dürfte das etwas anders sehen. Der Anschlag könnte eine der eindrucksvollsten Erfolgsstorys der Flugbranche weiter abbremsen.
Bereits im ersten Quartal 2016 schrieb die Linie bei 2,2 Milliarden Dollar Umsatz gut 500 Millionen Dollar Verlust. Dazu eskaliert in dem halbstaatlichen Unternehmen ein Richtungskampf zwischen altgedienten Managern und von der konservativ-islamischen Regierungspartei AKP entsandten Führungskräften. Das Unternehmen will sich offiziell nicht äußern. „Doch die Kombination aus Terror und Führungsstreit ist ein perfekter Sturm“, sagt ein gut verdrahteter Insider, der angesichts des innenpolitischen Klimas in der Türkei anonym bleiben will.
Die Erfolgsfaktoren von Turkish Airlines
In den vergangenen zehn Jahren war Turkish Airlines die am schnellsten wachsende Fluglinie Europas außerhalb des Billigflugsektorts. Wächst die Airline weiter so schnell ist die Linie binnen einer Dekade so groß wie der Lufthansa-Konzern, der seinen aktuellen Vorsprung nur durch Zukäufe wie Swiss oder Austrian Airlines gehalten hat. Dabei werden die Türken allen - sogar Emirates - Marktanteile abnehmen, besonders bei lukrativen Geschäftsreisenden und in der First und Businessclass zwischen Europa und Asien. Dafür sorgt ein Geschäftsmodell, das allen Wettbewerbern zumindest in Teilen überlegen ist. "Turkish vereint die Vorteile europäischer Linien wie Effizienz mit denen der Golf-Airlines wie gutem Service und der Nähe zu Wachstumsmärkten wie Indien", urteilt Christoph Brützel, Professor für Luftverkehrsmanagement an der Fachhochschule Bad Honnef und selbstständiger Berater. Dazu packt die an der Istanbuler Börse notierte Linie ein paar eigene Stärken drauf.
Die 1933 gegründete Linie vereinte noch zur Jahrtausendwende alle Laster einer Staatslinie: kaum Wachstum, hohe Verluste sowie ein unberechenbarer Service an Bord und Boden. Bei Vielfliegern stand die offizielle Abkürzung THY für "They hate you" (Englisch für: Die hassen euch). Auch als Temil Kotil Chef wurde, blieb das Bild, er stammte aus dem rückständigen Nordosten des Landes und ließ sich zu Beginn seiner Amtszeit als Mekkapilger fotografieren, ein in der säkularen Türkei unübliches Bekenntnis zum Glauben.
Um die Beamtenmentalität zu brechen spielte Temil Kotil als neuer Chef die nationale Karte. "Die Modernisierung des Unternehmens war ein Mittel, die Türkei größer zu machen", erzählt der Insider. "Und so einer nationalen Aufgabe kann sich doch kein patriotischer Staatsdiener widersetzen." Wer trotzdem nicht mitzog, fiel am Ende kaum auf unter den Motivierten und Neulingen, die Turkish wegen des kräftigen Wachstums einstellte.
Einen Passagier einen Kilometer weit zu fliegen, kostet Turkish halb so viel wie die Lufthansa. Dafür sorgen niedrigere Löhne sowie politische Hilfen wie niedrige Landegebühren oder rund um die Uhr geöffnete an den Flughäfen sowie schlanke Strukturen, dank denen auf einen Mitarbeiter im Durchschnitt rund ein Drittel mehr Passagiere kommen als bei Lufthansa. "Wir fliegen günstiger als Billigflieger wie Easyjet", sagt Kotil.
Der Service ist laut Skytrax, dem wichtigsten Marktforscher der Flugbranche, der beste in Europa und sogar besser als der von Emirates - aber relativ preiswert. Der Sitzkomfort ist kaum anders als bei der Konkurrenz. Doch beim Essen punktet Turkish mit vier Gängen und der Wahl zwischen drei warmen Hauptgerichten in der Businessclass auf den gut zwei Stunden Flug zwischen Deutschland und Istanbul. Der Unterschied zwischen einem Glas Wasser und einer echten Mahlzeit liegt bei weniger als drei Euro pro Passagier, sagt Kotil.
Wo Emirates Personal aus aller Welt mühsam auf eine gemeinsame Kultur schult, beschäftigt Turkish Leute aus den türkischen Gemeinden in aller Welt. Das vermittelt Gästen aus den Zielländern ebenso Heimatgefühl wie Kunden aus der Türkei. Dazu hat Turkish dank der vielen türkischen Gemeinden überall potenzielle Kunden, die Freunde und Verwandte bisher nur auf Umwegen besuchen konnten und für den schnellen Weg via Istanbul einen Aufpreis zahlen. Damit braucht es oft nur eine Handvoll Geschäftsreisender pro Tag, die nach Istanbul oder zu einem der anderen Ziele wollen.
Dazu hilft die lange Zeit kräftig boomende Wirtschaft des Landes. Dank der zentralen Lage hat das Land starke enge Verbindungen in seine die Nachbarländer. Das rührt auch daher, dass Staatschef Erdogan das Land mangels Hoffnung auf eine baldige EU-Mitgliedschaft zunehmend als Mittler zwischen Ost und West aufbaut. Je mehr die Wirtschaft im Land und in der Nachbarschaft wächst, umso mehr wächst auch Turkish.
In Istanbuls einfacheren Geschäftsreisehotels logieren Manager aus Staaten wie der Ukraine oder Pakistan. Sie wollen Geschäfte mit dem Westen machen. Doch weil sie keine Chance auf eine für Geschäftsabschlüsse oft unerlässliche kurzfristige Einreise in die USA oder Deutschland haben, machen sie die Deals in Istanbul mit in der Regel türkischen Partnern. Weil viele von Ihnen eine zweite Staatsbürgerschaft oder zumindest ein Dauervisum im Westen haben, können sie frei reisen und die Geschäfte im Westen abschließen.
Turkish erreicht mehr Kunden als besonders seine Wettbewerber vom persischen Golf mit weniger Kosten und Risiko. Die Linie aus Istanbul kann Europa und weite Teile Asiens mit 150-sitzigen Maschinen verbinden, was in den Flotten von Lufthansa oder Emirates nur Langstreckenflieger mit 250 Plätzen und mehr schaffen. Das erlaubt Flüge in kleinere Städte mit knapp 80 Kunden pro Tag, wo die anderen erst bei mehr als der doppelten Kundenzahl wirtschaftlich fliegen.
Dabei sah es lange Zeit so aus, als sei der Aufstieg der Airline nicht zu stoppen. Seit Kotil im Jahr 2005 den damals hoffnungslosen Sanierungsfall übernahm, konnte er den Umsatz verdreifachen. Noch Ende 2015 versprach der Manager, ihn bis 2023 auf fast 24 Milliarden US-Dollar zu verdoppeln. Schließlich, so Kotils Erwartungen, dürften alle vier Säulen des Unternehmens wachsen, dürften mehr Badeurlauber, Städtetouristen, Geschäftsreisende und Langstreckenpassagiere die Fluglinie nutzen.
Die Nebeneinkünfte der Airlines abseits des Ticketverkaufs
Alaska Air Group
Jahresergebnis 2014: 921 Millionen US-Dollar
Vorjahr: -
Quelle: „Yearbook of Ancillary Revenue 2015” der IdeaWorksCompany
Qantas Airways
Jahresergebnis 2014: 1,4 Milliarden US-Dollar
Vorjahr: Platz 09, 1,3 Milliarden US-Dollar
easyJet
Jahresergebnis 2014: 1,5 Milliarden US-Dollar
Vorjahr: Platz 07, 1,4 Milliarden US-Dollar
Lufthansa
Jahresergebnis 2014: 1,6 Milliarden US-Dollar
Vorjahr: Platz 08, 1,3 Milliarden US-Dollar
Southwest
Jahresergebnis 2014: 1,9 Milliarden US-Dollar
Vorjahr: Platz 06, 1,6 Milliarden US-Dollar
Ryanair
Jahresergebnis 2014: 1,9 Milliarden US-Dollar
Vorjahr: Platz 05, 1,7 Milliarden US-Dollar
Air France/KLM
Jahresergebnis 2014: 2 Milliarden US-Dollar
Vorjahr: Platz 04: 1,7 Milliarden US-Dollar
Delta
Jahresergebnis 2014: 3,2 Milliarden US-Dollar
Vorjahr: Platz 02, 2,5 Milliarden US-Dollar
AirwaysAmerican/US Airways
Jahresergebnis 2014 (Vorjahr): 4,7 Milliarden US-Dollar
Vorjahr: Platz 03, 2 Milliarden US-Dollar (American)/ Platz 10, 1,1 Milliarden US-Dollar (US Airways)
United
Jahresergebnis 2014: 5,9 Milliarden US-Dollar
Vorjahr: Platz 01, 5,7 Milliarden US-Dollar
Doch angesichts der aktuellen Lage sind die Wachstumspläne erst mal obsolet. So kamen bereits 2015 weniger Urlauber in die Türkei, aus Angst vor Terroranschlägen oder auch, weil ihnen die Politik von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan nicht geheuer ist. Die Zahl der deutschen Türkei-Besucher sackte im ersten Quartal 2016 um 30 Prozent.
Nach Anschlägen in Istanbul zum Jahresanfang fiel auch die Zahl der Städtetouristen. Und weil die Wirtschaft unter Erdoğans Alleingängen leidet, kamen auch weniger Geschäftsreisende.
Acht Prozent Passagierplus
Zwar meldete die Linie bis Mai acht Prozent Passagierplus. Doch weil Turkish mit dem Doppelten geplant hatte, sackte die Auslastung der Jets von 80 auf unter 74 Prozent. Jeder Euro weniger Umsatz pro Flug schlägt nahezu voll auf den Ertrag durch. Der Gewinn fiel im Vergleich zum Vorjahr deshalb um 30 Prozent. Besonders heftig ist der Effekt bei Geschäftsreisenden, die im Schnitt doppelt so viel zahlen wie Urlauber.
Der Terroranschlag in der vorigen Woche gefährdet nun die letzte Stütze: das Langstreckengeschäft. „Auch wenn die Attentäter nicht in den Sicherheitsbereich kamen: Das Gefühl, im Flughafen Istanbul sicher zu sein, hat gelitten. Da fliegen viele Kunden lieber mit Golflinien wie Emirates oder auch europäischen Airlines“, sagt ein deutscher Flughafenmanager.
Ein interner Richtungsstreit verschärft die Probleme noch. Die klassischen Airliner klagen, die von der Regierung Erdoğan betriebene außenpolitische Isolation erschwere das Geschäft. Zudem wehren sie sich gegen den Versuch der AKP, ihren Einfluss auszubauen.
Die AKP hat 2015 neben dem Verwaltungsratschef auch Teile des Vorstands durch regierungsnahe Manager ersetzt. Personalchef etwa ist jetzt Abdulkerim Çay, der unter anderem Pressechef der Regierung Erdoğan war. Im Unternehmen wächst die Sorge, das demnächst neue islamische Vorschriften beim Service eingeführt werden könnten, etwa weitere Beschränkungen beim Alkohol an Bord.
Unklar ist, wie gefestigt Kotils Position ist. Er gilt als Vertrauter Erdoğans, beide stammen aus derselben Provinz. Doch AKP-Forderungen, etwa nach traditionelleren Uniformen für die Flugbegleiterinnen, hat sich Kotil widersetzt. „Grundsätzlich wirkt die sonst so agile Airline in ihrer größten Prüfung wie gelähmt“, klagt ein Insider und glaubt, die AKP könne die Lage ausnutzen: „Der türkische Staat wird die Linie vor ernsthaften Problemen schützen, aber nicht ohne Entgegenkommen des Managements.“