Ukraine Die komplizierte Logistik in Zeiten des Krieges

Die ukrainischen Logistiker sind überlebenswichtig für die Wirtschaft ihres Landes. Quelle: imago images

Während die meisten Häfen in der Ukraine immer noch blockiert sind, schaffen Spediteure Getreide ins Ausland. Viele riskieren ihr Leben und warten wochenlang an Europas Grenzen.

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Knapp drei Monate nach dem Überfall der Russen auf die Ukraine postet der Spediteur Igor Kirpa auf Facebook ein Foto. Vier Männer flachsen im Pool, einer streckt seinen nackten Bauch in die Kamera. Der Himmel über ihnen blau, das Wasser klar. Es ist einer der Momente, die man als Unternehmer im Krieg halt so feiert: die unversehrte Rückkehr der Kollegen in die Heimat.

Vier Monate verbrachten seine Fahrer in Georgien, schliefen in der Fahrerkabine, konnten nicht zurück in die Ukraine, weil keine Flugzeuge flogen, keine Züge fuhren, die Grenzen dicht waren. „Wir waren einfach glücklich, dass sie wieder da sind und organisierten ein spontanes Fest“, erzählt Kirpa und zum ersten Mal ist Leben in seiner Stimme. Der 54-Jährige wirkt sonst beim Anruf konzentriert, aber erschöpft. „Meine größte Sorge ist, dass ich nicht weiß, was morgen sein wird. Werden uns die Raketen treffen? Wird unsere Stadt, unser Land überhaupt noch existieren? Es ist eine Lotterie.“

Halbierung des BIP

Fast ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn liegt die Wirtschaft in der Ukraine am Boden. Aktuellen Zahlen der Weltbank zufolge dürfte sich das BIP des Landes bis zum Jahresende halbieren. Welche Schicksalsschläge sich dahinter verbergen, lassen sich nur schwer ausmalen: Stillgelegte Fabriken, abmontiert und abgewandert, Arbeiter, die ins Ausland flohen oder sich bei der Armee zu Soldaten ausbilden ließen. Die Sektoren, die noch funktionieren, müssen aber weiter versorgt werden: Die Bevölkerung braucht Lebensmittel, für Kriegsdevisen müssen Waren ins Ausland verkauft werden. Logistiker wie Kirpa sind dabei überlebenswichtig.

25 Lastwagen stehen auf dem Hof seiner Firma „Hort Line“ in Saparosche, am Fuße des Flusses Dnipr im Südosten des Landes. 40 Mitarbeiter zählt die Firma, inklusive der vier, die in Georgien ausharren mussten. Die Russen haben den Großteil der Region eingenommen, der Krieg ist nur wenige Kilometer von Kirpas Büros entfernt. Tritt der 54-Jährige auf die Straße, hört er das Donnern der Artillerie, ein Einschlag hat kürzlich auf dem Werksgelände ein Loch in den Asphalt gerissen. „Ich habe es nicht für möglich gehalten, aber auch daran habe ich mich gewöhnt“, sagt Kirpa.

An Unternehmen wie Hort Line lässt sich die Historie dieses ganzen Krieges nacherzählen. Bis in den April hinein war für die Spedition an Geschäfte nicht zu denken. Die Russen feuerten auf dem gesamten Territorium, mit ihren Panzern waren sie im Begriff, Kiew einzunehmen. Kirpa verrammelte die Büros. Die Fuhren, die seine Frau und Kinder nach Lodz in Sicherheit brachten, karrten auch die Maschinen der vielen Metallverarbeiter und Landwirte aus Saparosche. Mit dem Zurückdrängen des großen Nachbarn kehrten viele in die Stadt zurück. Kirpa erzählt von Kollegen, die früher für westliche Spediteure gefahren sind und jetzt bei ihm ihren Lohn verdienten.

Auch in der Ukraine: Es fehlen Fahrer

Transportiert wird bei Hort Line seither alles, was gebraucht und produziert wird: Getreide nach Polen und Tschechien, Hilfsgüter und Technologie mit dem 20-Tonner aus dem Westen zurück. Vor allem die Agrargüter werden im Land überwiegend mit dem Lkw transportiert. Medien zufolge hat sich der Transport von landwirtschaftlichen Produkten in den vergangenen vier Monaten verzehnfacht, was auch daran liegt, dass die wirtschaftliche Leistung zugenommen hat.

Wie viele der Waren in der Ukraine insgesamt auf der Straße befördert werden, ist schwer zu beziffern. Vor dem Krieg waren es fast 15 Prozent. Die Tendenz jedoch wächst rasant. Allein von April bis Juni stellte die Regierung 4000 neue Lizenzen für Zusteller aus. Ein Jahr vorher waren es noch knapp 600. Das Problem: Selbst das ist nicht genug. Denn zum einen ist die Zahl der Importe deutlich gefallen. Kaum ein Unternehmen aus dem Ausland will die Gefahr auf sich nehmen, Fahrer ins Kriegsgebiet zu schicken. Auch ist nicht garantiert, dass die bestellte Ware empfangen wird – Kunden könnten geflüchtet sein oder sterben.

Zum anderen ist die Menge der Waren, die angesichts blockierter Transportwege auf die Straße drängen, immens.

Bereits früh rühmte sich das russische Militär, die logistischen Hauptadern des Landes schwer beschädigt zu haben. Flugzeuge fliegen in der Ukraine seither keine. Der wichtige Schifftransport liegt brach. Vor dem Krieg gelangten 70 Prozent aller Rohstoffe und Produkte über Wasser. Jetzt sind die meisten Häfen geschlossen. Erst vor einigen Tagen verließ in Odessa erstmals ein Containerschiff in Richtung Türkei. Ein Testlauf mit Hindernissen und viel zu wenig angesichts der enormen Getreidemengen, die nach Europa zur Weiterverarbeitung müssen.

Auch die ukrainische Eisenbahn Ukrsalisnyzja hält sich Experten zufolge zwar wacker, fährt allerdings am Anschlag weiter. Ein Viertel des gesamten Bahnnetzes sind durch den Krieg zerstört worden. Zudem waren Schienentransporte in den Westen schon vorher aufwendig. Aufgrund eines breiteren Radstandes in der Ukraine – einer Folge der Sowjetära – müssen Container von ukrainischen Zügen auf europäische gewechselt werden. Das kostet Zeit und treibt die Kosten.

Warteschlangen von 25 Kilometer Länge

Und so sind es auch die Trucks von Unternehmer Kirpa, die immer wichtiger werden. Die Arbeit ist für Leute wie ihn dadurch nicht einfacher geworden, im Gegenteil.

Da wären zum einen die Kosten. Verglichen mit der Zeit vor dem Krieg sind die Einnahmen für viele Spediteure praktisch gleichgeblieben. Die Ausgaben aber sind gestiegen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Fahrer weniger zustellen und länger unterwegs sind. Dauerte vorher eine Fahrt von der Südukraine nach Warschau drei Tage, sind es heute zwei Wochen. Weil die westlichen Regierungen die meisten Zollübertritte geschlossen haben, drängen sich die Fahrer an den drei gebliebenen Übergängen nach Polen, Rumänien und Moldawien. Die dortigen Lkw-Schlangen reihen sich bis zu 25 Kilometer in die Länge.

Viele Unternehmer im Land klagen darüber, dass sie unter diesen Bedingungen kaum Fahrer finden. Da hilft es auch wenig, dass die meisten ukrainischen Zusteller in Deutschland und Polen in die Heimat zurückgekehrt sind.

Gestiegen sind auch die Ausgaben, vor allem wegen der abgestürzten Nationalwährung Hrivna: Der Sprit ist fast doppelt so teuer, die Ersatzteile nur schwer bezahlbar, weil sie kaum einer ins Land schafft. Selbstredend sind auch die Versicherungsprämien für die Zustellungen in die Höhe geschossen.

Um die Kosten auszugleichen, haben viele Unternehmen die Preise für Exporte in die EU deutlich erhöht, zum Teil ist die Rede von 300 bis 400 Prozent. Auch Igor Kirpa ist nachgezogen. Den genauen Preis einer Lieferung will er aber nicht verraten.

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Lässt sich unter solchen Bedingungen wirtschaften? Logistiker Kirpa bläst tief in den Hörer. „Was bleibt mir anderes übrig?“, sagt er schließlich. Er könnte auch zu seiner Frau und den Kindern nach Polen ziehen. „Und dort so einsam leben wie ein grauer Wolf? Nein.“ Das Geschäft für ihn drehe sich im Moment nicht darum, viel Geld zu verdienen. Es geht auch darum, dem Land zu helfen, findet er.

Wenn der Krieg vorbei ist, will Kirpa das Loch im Asphalt auf seinem Werksgelände zubetonieren. Wann das sein könnte – daran will er nicht mehr denken.

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