Werbesprech
Hinweise darauf, dass die Marken und ihre Werbung an Wert und Gunst einbüßen, gab es zuhauf. Quelle: imago images

75 Prozent der Marken könnten über Nacht verschwinden – und keinen würde es stören

Marketingverantwortliche hatten hinreichend Zeit, Mittel und Gelegenheit, dem sinkenden Wert ihrer Marken entgegenzutreten. Das Ergebnis ihrer Bemühungen gleicht einem Drama.

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Warnungen gab es zuhauf. Hinweise darauf, dass die Marken und ihre Werbung an Wert und Gunst einbüßen, dass ihre Begehrlichkeit sinkt. Niemand kann sich damit herausreden, man habe den schleichenden Verfall nicht kommen sehen. Seit Jahren dokumentieren Marktforscher und Werber – hier im Werbesprech immer wieder nachzulesen – dass das Vertrauen in die Marken sinkt.

Nun folgt der nächste Beweis, diesmal heftiger als je zuvor: Die Agenturgruppe Havas veröffentlicht die Ergebnisse ihrer Studie „Meaningful Brands 2021“, die im Zwei-Jahres-Rhythmus seit 2009 erhoben wird. Havas kommentiert die Ergebnisse: „Die Umfrage, die inmitten des Höhepunkts der globalen Pandemie Mitte 2020 durchgeführt wurde, zeigt einen dramatischen Verlust an Vertrauen in Marken – 71 Prozent der Konsumenten haben wenig Vertrauen, dass Marken ihre Versprechen einhalten werden. Was noch schlimmer ist, nur 34 Prozent der Verbraucher glauben, dass Unternehmen transparent sind, was ihre Verpflichtungen und Versprechen angeht. Das in der Meaningful Brands gemessene Markenvertrauen ist auf einem historischen Tiefstand. Nur 47 Prozent der Marken gelten als vertrauenswürdig, wobei die Vertrauenskennzahlen weltweit rückläufig sind.“

Man möchte meinen, dass die Markenverantwortlichen die Entwicklung wahrgenommen und Maßnahmen dagegen umgesetzt hätten. Doch seit Beginn der globalen Studie im Jahr 2009 hat die Bedeutung der Marken stetig abgenommen. Die aktuelle Umfrage, in der die Markenbedeutung in funktionaler, persönlicher und kollektiver Hinsicht gemessen wird, zeigt, dass 75 Prozent der Marken über Nacht verschwinden könnten – und die meisten Menschen würden sich nicht dafür interessieren.

Vom Abgesang der Marke

Einer der zahlreichen Gründe für den dramatischen Abgesang der Marken liegt gewiss im sich wandelnden Verhalten der Konsumenten. Dieser Wandel ist den Werbungtreibenden bewusst, beteuern sie doch bei jeder sich bietenden Gelegenheit, darauf einzugehen. Es gelingt ihnen nachweislich nicht.
Das Magazin Markenartikel kommentiert diese ausdrücklichen Studien-Erkenntnisse: „Ein Problem ist laut Studie, dass 73 Prozent der Konsumenten von Marken authentisches, sinnvolles und nachhaltiges Handeln zum Wohle der Gesellschaft und des Planeten erwarten, sich aber von leeren Versprechungen enttäuscht fühlen. Dabei geben 64 Prozent der Menschen an, lieber bei Unternehmen zu kaufen, die Purpose und Profit verantwortungsvoll verbinden – ein Anstieg um zehn Punkte seit 2019. Mehr als die Hälfte (53 Prozent) der Befragten gibt an, dass sie bereit sind, mehr für eine Marke zu bezahlen, die einen Standpunkt vertritt.“

Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Pandemie die Ergebnisse der Studie in diesem Jahr beeinflusste. Tatsächlich erwarten die Verbraucher inzwischen mehr Haltung von den Marken, die sie kaufen sollen: „So wünschen sich 66 Prozent der Konsumenten mehr bedeutungsvolle Erlebnisse von Marken. 77 Prozent erwarten von Marken, dass sie Menschen in Krisenzeiten Unterstützung bieten. Die Wir- bzw. Ich-Mentalität beeinflusst die Erwartungshaltung in Bezug auf persönliche und kollektive Vorteile in verschiedenen Regionen und Kulturen der Welt. Die USA und Westeuropa sind am misstrauischsten gegenüber Marken...“

Misstrauen gegenüber Marken? Die Studie zeigt, wenn man nach positiven Erkenntnissen für Marketing und Werbung sucht, dass die Erwartungshaltung der Menschen gegenüber den Produkten und Marken ihres Alltagslebens hoch ist. Darauf können die Unternehmen stolz sein. Denn genau das unterscheidet ihre Marken im Idealfall von der Billigware, die in den Regalen der Supermärkte immer höhere Marktanteile für sich beansprucht. Sie könnten diese Chance nutzen. Doch statt Vertrauen erntet ihre Markenarbeit offensichtlich immer mehr Misstrauen. Dies ist eine neue und durchaus erschreckende Dimension im Umgang mit den Konsumenten. Da nützt es herzlich wenig, in jedem Werbespot darauf hinzuweisen, dass die Marke nachhaltig und umweltbewusst ist. Die Verbraucher glauben es schlichtweg nicht. Sie halten es für „Greenwashing“.

Ein neues Zeitalter des Zynismus

Unter der Headline „Markenvertrauen sinkt auf historischen Tiefstand“ zitiert W&V Mark Sinnock, Chief Strategy Officer der Havas Creative Group: „Der diesjährige Bericht zeigt uns, dass die Verbraucher in ein Zeitalter des Zynismus eingetreten sind. Sie sind umgeben von dem, was sie als leere oder gebrochene Versprechen wahrnehmen – auf allen Ebenen unserer Gesellschaft – und wir beginnen, die Auswirkungen dieses Misstrauens auf Marken zu sehen.“

Man muss diesen Begriff des Zynismus jedoch in einen größeren Kontext stellen. Die Verbraucher reagieren hier mit Vertrauensschwund und Zynismus auf die Marken und ihre Kommunikation. Doch es ist eine Reaktion. Es ist ihre Reaktion auf den Zynismus der Unternehmen mitsamt ihrer Marken.

Zwar geben in einer Stellungnahme der Organisation Werbungtreibende OWM „drei Viertel der Unternehmen an, dass gesellschaftliche Verantwortung in der Markenkommunikation in den vergangenen zwölf Monaten signifikant an Bedeutung gewonnen hat. Bei 60 Prozent der Mitgliedsunternehmen hat die gesellschaftliche Verantwortung in der Markenkommunikation eine sehr hohe (22 Prozent) beziehungsweise hohe (38 Prozent) Relevanz. Zudem hat über die Hälfte der Mitglieder individuelle, auf Corona zugeschnittene Kampagnen umgesetzt. 90 Prozent bewerten diese als erfolgreich beziehungsweise sehr erfolgreich.“

Eine schallende Ohrfeige

Nein, werte Unternehmen und Markenverantwortliche, diese Kampagnen sind keineswegs erfolgreich. Die Außenwahrnehmung ist gewiss relevanter als die Selbsteinschätzung. Und hier steht schwarz auf weiß, dass der dokumentierte Trend einer schallenden Ohrfeige für die bisherigen Maßnahmen und Kampagnen der Industrie gleichkommen.

Ebenso wenig wollen Verbraucher getrackt werden. Ebenso wenig wollen die User personalisierte Werbung sehen. Sie wollen, dass man ihnen mit Respekt begegnet. So lange Werbungtreibende nicht auf diese Wünsche und Bedürfnisse eingehen, so lange wird es mit dem Erfolg des Marketings weiter bergab gehen.

Aber ist dieser Trend noch umkehrbar? Selbstverständlich. Die Studie „Markentreue 2021“ bewertete jüngst 1246 Unternehmen und Marken. Unter den Marken mit der höchsten Kundenloyalität befinden sich unter anderem dm, Rewe, Landliebe, Miele, Hohes C, Coca-Cola, Fielmann, Bosch, Obi und HUK-Coburg. Auffallend dabei: Diese Marken nerven ihre Kunden nicht mit leeren Versprechen und kaum mit personalisierter Onlinewerbung. Sie zeigen ihren Kunden Respekt. Sie nehmen die Bedürfnisse ihrer Kunden ernst.

Erhaltenswerte Markenwerte

Ebenso interessant ist der Aspekt, dass diese Marken allesamt nach wie vor in den alten Medien, insbesondere im Fernsehen ebenso wie in Printmedien werben und somit öffentlich einer breiten Masse von Verbrauchern zeigen, wofür sie stehen. Was ihre Marken von anderen unterscheidet. Worin sie den Wert ihrer Marken sehen. Diese Werte kommunizieren sie öffentlich, glaubhaft, nachhaltig und – wie wir sehen – offenbar erfolgreich.

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Marken werden auch in Zukunft prosperieren können, wenn sie ehrlich kommunizieren. Wenn sie auf die Bedürfnisse ihrer Konsumenten eingehen und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Wenn sie Standpunkte vertreten und Versprechen einlösen. Wenn sie nachhaltig und klimagerecht handeln. Wenn sie so ihre Werte erhalten. Das kann so schwer nicht sein.

Mehr zum Thema: Brand Safety ist eines der essenziellen Probleme der Internetwerbung. Es bedeutet jedoch mehr als nur Schaden von der eigenen Marke abzuwehren. Es geht um Größeres: die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen.

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