Werbesprech

Werber laufen wie Lemminge der falschen Zielgruppe nach

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Das Ende der Kreativität

Kaum anders ist die Situation bei der Kreation („Art“). Die Kreativen klagen seit Jahren über sinkende Honorare und die zunehmende, wirtschaftlich unsichere Vergabe reiner Projektaufträge. Das ist weder motivierend, noch spornt es Kreative zu Höchstleistungen an.

„Ad Age“ kürte jüngst die kreativsten Kampagnen des Jahrzehnts. Auf Platz 1 wählten sie Volvos „Epic Split“ aus dem Jahr 2013 und auf Platz 3 Nikes „Write The Future“ aus dem Jahr 2010. Bezeichnend, dass diese Kampagnen uralt sind. Die letzten Jahre haben die Kreativbranche offenbar nicht viel weitergebracht. Von der Verleihung der 2019er Lions in Cannes bleiben nur wenige Kampagnen in Erinnerung, sondern vielmehr die Kritik, dass alle zwar von „Brand Purpose“ (Haltung) faselten, sie jedoch nirgends zu sehen war. Es kommt einem vor, als würden die Marketingleute nicht einmal mehr an sich selbst glauben.

Und über die Vergabe der deutschen ADC-Preise schrieb „W&V„: „Qualität in der Breite, dafür weniger Highlights“. Schlimmer noch: Keiner der Top-3-Preise ging an eine Marke, stattdessen an Institutionen wie Reporter ohne Grenzen, die Berliner Philharmoniker und 100 Jahre Bauhaus. Kein Wunder, dass die Markenwerbung krankt.

„Senioren“ an der Macht

Kommen wir zum letzten der drei Punkte, dem Handwerk („Craft“). Hier reicht als Beispiel der Umgang mit Zielgruppen. Nach wie vor glauben landauf landab alle Marketer und Werber an die Magie und Kraft der jungen Zielgruppe. In der überwältigenden Mehrzahl aller Briefings aus den Marketingabteilungen deutscher Markenunternehmen haben Mediaplaner die „werberelevante“ Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen anzusprechen. Unverändert – heute wie vor dreißig Jahren.

Marketing will, im absoluten Gegensatz zur Wirklichkeit des Marktes, nicht wahrhaben, dass es die über 45-Jährigen sind, die für die höchste Kaufkraft und den Löwenanteil des Konsums verantwortlich sind. Dafür hält Marketing Science hunderte Belege und Nachweise bereit, die jedoch allesamt von den Werbern ignoriert werden.

Ein hochaktuelles Beispiel: „Markenartikel“ zitiert aus einer aktuellen Statista-Studie: „Für 357 Euro haben die Bundesbürger dieses Jahr im Monat eingekauft. Besonders ausgabefreudig zeigten sich Männer und ältere Verbraucher. Im Schnitt kauften Männer für 401 Euro ein, Frauen hingegen für 315 Euro. Von allen Altersgruppen griffen die 45- bis 54-Jährigen am tiefsten in die Tasche: Sie gaben durchschnittlich 404 Euro pro Monat aus und lagen damit knapp vor den 55- bis 64-Jährigen, die monatlich für 402 Euro einkauften. Am wenigstens gaben Verbraucher im Alter von 16 bis 24 Jahren und 25 bis 34 Jahren aus – pro Monat nämlich nur 213 Euro beziehungsweise 329 Euro.“

Marketing-Lemminge am Abgrund

Aber keine Sorge: Solche Fakten werden die Werber auch 2020 weder wahrnehmen, noch sie für ihre Arbeit umsetzen. Sie werden weiter, Lemmingen gleich, die jüngsten und kaufkraftschwächsten Verbraucher ins Visier ihre Kampagnen nehmen. Sie werden ebenso wahrscheinlich keine großen, kreativen Kampagnen lancieren, sondern weiterhin an kleine, unsichtbare, dafür aber angeblich maßgeschneiderte Botschaften für Mikro-Zielgruppen glauben.

Dem Verbraucher wird es recht sein, denn so bleibt er von den meisten Kampagnen verschont. Den Werbern ist an der Schwelle zum neuen Jahrzehnt nicht zu helfen. Ein schwacher Trost: tiefer als auf den letzten Platz im Vertrauensranking können sie ohnehin nicht sinken.

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