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ARCHIV - 06.12.2021, Berlin: Ein Kneipenwirt reicht in einer Berliner Gaststätte einem Gast ein Bier. Menschen unter 40 Jahre sollten einer neuen Studie zufolge deutlich weniger Alkohol trinken als bisher angenommen. (zu dpa «Studie: Mehr als ein winziges Bier pro Tag schadet unter 40-Jährigen») Foto: Christoph Soeder/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ Quelle: dpa

Das Ende der Marketingkunst – am Beispiel Bier

Die Absatzeinbrüche im Biermarkt sind historisch. Lösungen haben weder Marketing noch Vertrieb. Wir erleben das Einbrechen einer Branche – und zugleich das Versagen der Marketing-Experten.

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Marketingverantwortlich in einer Brauerei möchte man nicht sein. Der Bierkonsum befindet sich im Land des Reinheitsgebotes auf einem historischen Tief. Corona hat eine tiefere Delle hinterlassen als in vielen anderen Branchen. Alkoholfrei und Biermisch-Innovationen gleichen die Umsatzrückgänge nicht aus. Das Marketing weiß darauf keine Antworten. Der Vertrieb hat längst das Ruder übernommen – und macht mehr falsch als richtig. Ein Drama nimmt seinen Lauf.

Die Presse schreibt vom „Ende der Bier-Nation Deutschland“: „Im weltweiten Vergleich spielen die heimischen Brauereien nur noch eine Nebenrolle. Auch die Nachfrage hierzulande ist stark eingebrochen.“ Der Marktanteil deutscher Brauereien liegt bei nur noch 2,6 Prozent. Weltmarktführer AB Inbev kommt auf 29,3 Prozent, Heineken auf 12,6 Prozent und die drittplatzierte China Resources Snow Breweries erreicht sechs Prozent.

„Erst auf Platz 23 im Ranking steht mit Radeberger die erste Brauerei aus Deutschland – noch hinter Konkurrenten aus Japan, Irland, der Türkei, Vietnam, den Philippinen oder Chile. 11,6 Millionen Hektoliter hat die Oetker-Tochter im vergangenen Jahr produziert, der Marktanteil an der Weltbierproduktion liegt damit bei 0,6 Prozent.“

Historische Absatzeinbrüche

Der Deutsche Brauer Bund überschreibt seine Pressemitteilung mit „Erneut massive Verluste für die deutsche Brauwirtschaft“: „Die Corona-Pandemie hat auch im Jahr 2021 zu massiven Einbußen für die deutsche Brauwirtschaft geführt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ging der Inlandsabsatz im Vergleich zum Rekordminus des Vorjahres nochmals um 3,4 Prozent auf 7 Milliarden Liter zurück. Gegenüber 2019 war der Inlandsabsatz 2021 um 8,6 Prozent niedriger. Die Hoffnung, die Talsohle endlich durchschritten zu haben, hat sich für viele Betriebe leider nicht erfüllt.“

„Brauer schlagen Alarm“, meldet die Tagesschau: „Der Bierkonsum ist im vergangenen Jahr kräftig zurückgegangen. Es war der niedrigste Wert seit der Neufassung des Biersteuergesetzes im Jahr 1993.“ Die Lage sei dramatisch. Man befürchte eine Pleitewelle im Gastgewerbe. Die Aussichten für die Zukunft sind laut Brauer Bund ebenso düster:
„Der Absatzeinbruch auf dem Biermarkt trifft auf eine nie gekannte Preisexplosion – für viele Betriebe wird das zu einer existenziellen Bedrohung.“

Alkoholfreie und Craft Biere retten die Branche nicht

Alkoholfreie Biere und sogenannte Biermischgetränke, deren Produktion sich seit 2007 mehr als verdoppelte, machen nur acht Prozent des Marktes aus und sind somit nicht in der Lage, die Absatzeinbrüche des traditionellen Bieres auszugleichen. Nach einer Studie des Marktforschers Splendid erfreut sich Bier bei Frauen einerseits immer größerer Beliebtheit: „Im Falle der Biermischgetränke übersteigt der Anteil weiblicher Konsumentinnen (53 Prozent) inzwischen den der männlichen (47 Prozent).“ Andererseits ist selbst hier der Absatz rückläufig: Bei den Biermischungen gab es im ersten Halbjahr 2022 einen Rückgang von 3,3 Prozent.

Womit man in den Brauereien wohl nicht gerechnet hat: Alkoholfreies Bier ist bei den VerbraucherInnen laut der Splendid-Studie nicht sonderlich beliebt: „Alkoholfreies Bier bleibt für zahlreiche Biertrinker ein reines Ersatzprodukt: Die Hälfte der Konsumenten trinkt es nur, wenn eine Situation den Alkoholverzicht erfordert.“

Der Trend zu Craft Bieren ist keine Rettung für die Brauereien, sondern eine Bedrohung: „Konkurrenz bekommen die etablierten Brauereien in den letzten Jahren zunehmend durch kleine, handwerklich arbeitende Betriebe, die hochwertige Biere mit mehr Eigengeschmack produzieren. 43 Prozent der Biertrinker haben bereits ein solches Craft Beer probiert.“

Allerdings entdeckten die Marktforscher überraschend deutliche Mängel im Marketing und den Images der Biermarken: „Eine im Zuge der Studie durchgeführte Imageanalyse offenbarte teilweise großen Nachholbedarf bei der Markenbildung zahlreicher Brauereien.“

Schwerwiegende Defizite bei Marketing

Angesichts der hohen Werbeausgaben der deutschen Brauereien ist das schwerer Tobak. Horizont kommentiert diese Defizite: „Was die einzelnen Marken angeht, haben die Deutschen keine eindeutigen Präferenzen. Das zeigt auch die Tatsache, dass sich die bekanntesten und die beliebtesten Marken in der Gunst der Konsumenten nur geringfügig unterscheiden: Für 9 Prozent der Befragten ist Krombacher die Lieblingsmarke, dicht gefolgt von Beck's (8 Prozent) und Bitburger (6 Prozent). Was die Markenbekanntheit betrifft, liegt Beck's (93 Prozent) vor Warsteiner (90 Prozent) und Krombacher (89 Prozent).“

Auch in puncto Image unterscheiden sich die großen Brauereien nur geringfügig voneinander. „Die etablierten Brauereien sollten gezieltere Maßnahmen zur Markendifferenzierung ergreifen und ihre Alleinstellungsmerkmale stärker betonen“, so Studienleiter Claßen. „Auf diese Weise können sie ihre Position in einem von Markenvielfalt geprägten Umfeld nachhaltig stärken.“

Der Vertrieb verramscht den Biermarkt

In einer Untersuchung des Biermarktes kommt auch die Unternehmensberatung Emotional Territories zum unrühmlichen Fazit, dass Bierwerbung keinen Mehrwert schafft: „7 von 10 Bierkampagnen vermitteln irrelevante oder gar keine Werte. In den letzten 10 Jahren ist der Bierabsatz in Deutschland um 12,8 Prozent gesunken. Um die Verluste auszugleichen, haben die Brauer hauptsächlich zwei Maßnahmen ergriffen: mehr Sonderangebote und mehr Werbung. So liegt laut Getränkefachgroßhandel der Promotionsanteil bei den nationalen Biermarken bei mehr als 2/3. 2015 waren es sogar 76,3 Prozent. Verkaufte ein Werbe-Euro vor 10 Jahren noch über 22 Liter Bier, sind es nur noch 18,6 Liter.“ Die Fehler der Vergangenheit holen die Branche nun ein.

Purer Masochismus

Während es Aufgabe des Marketings ist, den Absatz zu fördern – nicht aber zuzusehen, wie der Absatz historisch einbricht – läuft der Vertrieb in erkennbar aufgeklappte Messer und trägt dazu bei, den Wert der Biermarken nachhaltig zu beschädigen. Spätestens seit den Erkenntnissen des Byron Sharp weiß die Marketingwelt, dass Promotions weder Markenwert, Wachstum noch Markenloyalität fördern. Sie bedienen Billigkäufer, denen jede Marke gleichgültig ist – und verkaufen die Marke an Markenliebhaber zu einem unnötig niedrigen Preis. Ein Promotionsanteil von bis zu drei Viertel des Branchenabsatzes ist selbstzerstörerischer Masochismus und muss von Marketing verhindert werden.

Das Ende kreativer Bierwerbung

Schon vor einigen Jahren schrieb Marco Saal in Horizont, warum deutsche Bierwerbung nicht mehr prickelt: „Es ist noch nicht allzu lange her, da verband man mit Biermarken konkrete Bilder, Geschichten und Werte. Beck´s war mit seinem legendären Segelschiff die Marke der Abenteurer und Freiheitsliebhaber, der friesisch-herbe Jever-Mann sprach eher Individualisten und Einzelgänger an, Schöfferhofer war dank der Erfolgsgeschichte um Harald, der versehentlich etwas Bier in den Bauchnabel einer süßen Französin kippte, über viele Jahre die Marke der Möchtegern-Casanovas.

Von dieser Kreativität ist nichts übriggeblieben. Heineken hält der Generation der Workaholics aktuell den Spiegel vor und schaltet denen, die noch spät am Laptop sitzen, wahlweise das WLAN oder gleich den gesamten Strom aus. San Miguel entschädigt verhinderte Spanien-Urlauber mit einem Sixpack. Wer seinen Kaufbeleg und eine offizielle Stornierungs- oder Verspätungsmitteilung der Fluggesellschaft auf der Aktionswebseite hochlädt, bekommt den Preis erstattet. Von Kreativität nicht die geringste Spur.

Marketing, übernehmen Sie!

Da ist es werbewirksamer und unterhaltsamer, wenn sich die Polizei Essen für eine Twitter-Panne entschuldigt: Auf dem Twitter-Account „Polizei_NRW_E“ war eine Zeit lang ein Tweet mit Werbung für ein Bottroper Bier und ein Café in Bottrop zu sehen. „Die Prüfung des Beitrags hat ergeben, dass es bei der Veröffentlichung des Tweets zu einer Verwechslung zwischen einem privaten und dem dienstlichen Twitteraccount kam. Hierfür möchten wir uns ausdrücklich entschuldigen, twitterte die Polizei.“

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Die Bier-Spots mit den meisten YouTube-Aufrufen stammen von Heineken (Niederlande), Pure Blonde (Australien) und Guinness (Irland). Will man seiner Aufgabe gerecht werden, müssen sich Marketing und Werbung einen Ruck geben und im internationalen Vergleich stark verbessern: sich mit deutlich mehr Kreativität gegen die nächsten Absatzeinbrüche zur Wehr setzen. Marketing, übernehmen Sie!

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