Stein des Anstoßes ist eine Verordnung der EU-Kommission mit dem Namen „E-Privacy“. Das europäische Parlament will damit die Datenschutz-Standards für elektronische Kommunikation massiv erhöhen. Den Politikern geht es um den Schutz der Verbraucher bei der Nutzung von Websites im Internet. Eine Pressemitteilung des Parlaments formuliert "europaweit hohe Standards der Privatsphäre, Vertraulichkeit und Sicherheit in elektronischer Kommunikation".
Die Konsequenzen sind weitreichend. Künftig wäre es verboten, Cookie Walls zu installieren. Das heißt: Einem Internetnutzer darf nicht der Zugang zu einer Webseite verweigert werden, wenn er sich weigert, seine persönlichen Daten preiszugeben. Laut cookipedia.co.uk setzt die Startseite von Spiegel Online derzeit 774 dieser Cookies, T-Online bringt es sogar auf 1.323.
Spähsoftware sowie das Tracken von Smartphone-Nutzern durch öffentliche Hotspots werden ebenfalls verboten.
Die größte Einschränkung der neuen Regelung: Nutzerdaten dürfen nur noch verwendet werden, wenn der Nutzer seine Einwilligung („Opt-in“) gegeben hat. Darüber hinaus würden Metadaten als vertraulich eingestuft und dürften nicht an Dritte weitergegeben werden: zum Beispiel besuchte Webseiten oder Standortdaten.
Das Ende der Digitalwirtschaft
Die EU-Kommission will mit der Verordnung das Tracking der Endverbraucher im Netz ebenso verbieten wie die Weitergabe ihrer Daten an Dritte. Das ist verständlich und nachvollziehbar. Es ist zweifellos richtig, die privaten Daten der Nutzer besser zu schützen als dies bislang der Fall war. Doch Online-Werbung würde dadurch für viele Unternehmen ihren Sinn verlieren.
Die Regeländerung bedeutet die größte Gefahr für die Digitalwirtschaft und Werbeindustrie, die es je gab, so Volker Schütz, Chefredakteur der Branchenzeitung Horizont: „Der aktuelle Entwurf der E-Privacy-Verordnung bedroht die fragilen digitalen Geschäftsmodelle der Medien und Contentanbieter. Sie bedroht Arbeitsplätze von Webspezialisten, Vermarktern und Kreativen. Sie diskreditiert die gesamte Digital-Industrie.“
Schütz weiter: „Medien- und Werbeindustrie werden de facto zur Disposition gestellt. Nach eigenem Bekunden hatten die EU-Parlamentarier, die Nutzerinteressen im Blick. Doch die gut gemeinte Entscheidung offenbart eine erschreckende Weltfremdheit in Sachen Digitalwirtschaft. Und als ob das nicht genug wäre, stärkt sie die Macht der großen (US-)Log-in-Plattformen Facebook, Google und Amazon, also genau die Konzerne, vor denen die EU-Politiker sonst bei jeder Gelegenheit inbrünstig warnen.“
Tatsächlich würde die Verordnung die Finanzierung und damit die Existenz journalistischer Online-Angebote wie Stern.de, Spiegel-Online oder wiwo.de in Frage stellen. Die User würden zustimmen müssen, dass ihnen nicht nur Journalismus, sondern auch Werbung ausgespielt wird. Sie müssten darüber hinaus zustimmen, welche Daten verarbeitet und Dritten überlassen werden dürfen.
Die Nutzer, so die Erwartung der Kritiker, würden gewiss nicht permanent und zeitraubend ihre Freigaben („Opt-in“) erteilen. Wenn aber keine Werbung nach Zielgruppen geplant und ausgeliefert werden darf, wenn die Agenturen nicht wie bisher dem Weg der potentiellen Kunden durchs Netz folgen dürfen, blieben Werbeeinnahmen aus.
Alles Werbegeld an Google und Facebook
Insbesondere gegen Facebook werden jedoch immer wieder schwere Vorwürfe erhoben. Zuletzt rechnete Sean Parker, Ex-Investor mit seinem früheren Arbeitgeber ab: Facebook-Gründer Mark Zuckerberg habe wissentlich ein Produkt kreiert, das sich die psychologische Verletzlichkeit seiner Mitglieder zunutze mache und immer weiter ausbeute.
Inzwischen, wenn nicht gar zu spät, steigen auch die Werbekunden auf die Barrikaden. Sie befürchten, dass sie journalistische Plattformen verlieren, mit denen sie werblichen Kontakt zu ihren Zielgruppen erhalten. Tina Beuchler, Vorsitzende des Werbekundenverbandes OWM fordert: „Die E-Privacy-Verordnung darf uns keine Werbeflächen kosten.“
Die Aussteuerung von Werbung und auch die Erfolgsmessung würden gefährdet. Daher appelliert Beuchler an alle Teilnehmer der Kommunikationsbranche. Sie sollten gemeinsam versuchen, "das Schlimmste bei dieser überzogenen Regulierung zu verhindern". Sonst würden die Verlage gegenüber den globalen Plattformen (Google, Facebook, Amazon), die als Anbieter ganzer Ökosysteme noch mächtiger würden, weiter ins Hintertreffen geraten.
Das Versagen der Lobbyisten
Dabei hatten die Lobbyisten der Online-Medien- und Werbeindustrie scheinbar ganze Arbeit geleistet. Mit allen Mittel bemühten sie sich, die Schutzbestimmungen in der geplanten EU-Verordnung aufzuweichen. Es sei einer der „schlimmsten Lobby-Kampagnen“ gewesen, die es jemals auf europäischer Ebene gegeben habe. Das besagt eine Analyse der Gruppe „Corporate Europe Observatory“.
Allein 2016 habe es zum Thema E-Privacy mindestens 41 Lobbytreffen mit den Kommissaren Ansip und Oettinger oder mit deren Kabinettsmitgliedern gegeben. Nach einem Treffen der Berichterstatter hätten mehrere Abgeordnete das Klima als "aggressiv", das Verhalten der Gäste als "rau" und "unhöflich" beschrieben, heißt es in einem Bericht über die „intensiven“ Bemühungen der Lobbyisten.
Drastische Übertreibungen der Lobbyisten haben nun dazu geführt, dass die Digitalwirtschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Regelung bekommt, die einerseits der Wirtschaft schadet, andererseits aber auch den Verbrauchern. Große wie kleinere Medien werden Online-Journalismus nicht mehr finanzieren und betreiben können. Die von der EU-Kommission zu schützende Medien-Vielfalt gerät damit in Gefahr.
Offensichtlich haben sie ihre Lobbyarbeit zu intensiv betrieben und dabei Kompromisslösungen vermissen lassen. Im Ergebnis haben sie das genaue Gegenteil erreicht: Die E-Privacy-Verordnung wurde in der strengst möglichen Variante verabschiedet. Nun bleibt nur noch wenig Zeit für Korrekturen.
In Werbers Brust schlagen zwei Herzen
Der Schutz der Verbraucher vor dem Missbrauch ihrer Daten ist nicht in Frage zu stellen. Schließlich sind die Werber selbst schuld an der Misere. Schütz (Horizont) schreibt: „Man macht es sich aber zu einfach, das drohende Desaster allein auf die Unwissenheit der Politiker zu schieben. Dass die Verordnung so radikal ausfällt, hat sich die digitale Werbeindustrie ein Stück weit selbst zuzuschreiben. Jahrelang wurden nach dem urkapitalistischen Motto ‚Nach mir die Sintflut‘ Menschen mit teilweise schrecklicher Werbung bombardiert. Nun schlägt, sozusagen, das Imperium der Werbefeinde zurück.“
Die ganze Branche hat versagt. Sie hat es versäumt, respektvoll mit den Daten der Verbraucher umzugehen. Sie hat zuletzt auch versäumt, tragfähige Kompromisse zu formulieren. Nun stehen wir kurz vor dem Ende der Onlinewerbung. Manchen wird’s freuen.