Werbesprech
Quelle: imago images

Das werden (nicht!) die Marketing-Trends 2023

Die Flut an Trends, die das Marketing jedes Jahr zu beachten hat, gleicht einem Bullshit-Bingo. Als wenn man im Marketing nicht schon genug um die Ohren hätte. Die Spreu vom Weizen zu trennen ist daher das Gebot der Stunde. Eine Kolumne.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Der Internet-Showmaster Rob Vegas schrieb dieser Tage bei Twitter: „Nix nervt in dieser Zeit mehr als ‚Das werden die #SocialMedia Trends 2023‘ Postings“ und ergänzte: „And they were ALL WRONG“. Tatsächlich nimmt die Zahl der Expertinnen und Experten, die sich am Jahresende berufen fühlen, die Trends für die Marketing-Zukunft vorherzusagen, im gleichen Maße zu, wie sie mit ihren Prognosen daneben liegen.

2022: Ein Jahr der Fehleinschätzungen

Bevor wir in die Untiefen der selbsternannten Zukunftsforscher tauchen, geben wir jedoch Mark Ritson, seines Zeichens einer der anerkanntesten Marketing-Experten der Welt, Gelegenheit, sich ein letztes Mal mit dem Jahr 2022 zu beschäftigen. Für ihn waren die herausragenden Ereignisse des abgelaufenen Marketingjahres etwa Elon Musks Umgang mit dem Preis für den blauen Twitter-Haken, die Lächerlichkeit, der sich britische Marken beim Kondolieren der verstorbenen Queen aussetzten, die Angst der Social-Media-Plattformen vor TikTok, die Fehlprognosen über die Verbraucher-Reaktionen auf die Pandemie oder die Investoren-Schelte, die sich Unilever für seinen Marken-Purpose einhandelte: „A company which feels it has to define the purpose of Hellmann’s mayonnaise has in our view clearly lost the plot.“ Betrachtet man Ritsons Zusammenfassung, war das Jahr 2022 demnach ein Jahr der Marketing-Irrtümer und Fehleinschätzungen.

Wird das Jahr 2023 wenigstens besser, wenn die Marketing- und Werbe-Verantwortlichen den neuerlichen Trends der Experten folgen? Schauen wir uns einige dieser Trends einmal genauer an.

Herr, lass Hirn regnen

Eine Studie von Gartner besagt, dass bald 30 Prozent der Influencer-Marketing-Budgets auf Virtual Influencer verwendet werden, also auf fiktive Protagonisten. Der Trend-Melder meint: „Das Thema wird kommen und es wird groß.“ Wenn das passiert, kann einem Marketing schon jetzt leidtun. Denn was, bitte, ist an fiktiven Influencern authentischer als an wirklichen Menschen? War Authentizität nicht eine der ganz großen Forderungen der letzten Jahre an die Marken- Kommunikation? Herr, möchte man ausrufen, lass Hirn regnen.

Interessant ist auch diese Empfehlung zur GenZ: „Generation Z dominiert weiterhin die Algorithmen. Während die älteren Generationen Social Media oft als stille Beobachter nutzen, sorgt GenZ für Engagement. Durch Liken, Teilen und Kommentieren ist diese Generation dafür verantwortlich, was sich verbreitet. Das macht es für dich als Brand super wichtig, diese Zielgruppe zu erreichen.“ Es mag sein, dass die GenZ für Engagement sorgt, aber leider nicht auch für Umsätze an der Supermarktkasse. Die Kaufkraft befindet sich derweil noch fest in Händen der Babyboomer und Generation X. Marketing sollte vielleicht auch 2023 unterscheiden zwischen Likern und Käufern.

BeReal, die App des Jahres 2022, bleibt für Marketing und Werbung uninteressant, weil – jetzt bitte gut festhalten – „die Architektur der App keine Werbemöglichkeiten bietet“. Ja, das ergibt Sinn. Allerdings nicht in einer Liste der Top-Trends für 2023.
Übrigens, TikTok wird zur Suchmaschine: „Bereits heute ist YouTube eine der präferierten Suchmaschinen der GenZ. Aber immer häufiger bietet auch TikTok kompaktes Wissen zu den verschiedensten Themen.“ Dieser Rat ist offenbar für Marketer bestimmt, die noch nicht verstanden haben, dass längst jede Plattform von den Usern zur Suchmaschine umfunktioniert wurde. Nun also auch TikTok. Surprise!

Allgemeinplätze, Binsen und das Ende der Personas

Die individuelle Bespielung von Kanälen, erfahren wir, wird relevanter: „Plattform-agnostisch laute deswegen die Devise. Auf TikTok müsse eine Geschichte anders erzählt werden als auf Instagram oder auf YouTube und in long-form anders als in short-form.“ Dieser Rat ist sicher für sehr junge Marketingverantwortliche gedacht, die nicht wissen können, dass man früher eine Botschaft in Print anders verpacken musste als im Radio oder Fernsehen. Es sei höflich daran erinnert, dass dies ausdrücklich die Trends für 2023 sein sollen.

Für die Vermutung allerdings, dass LinkedIn weiter boomt und Corporate Influencer somit wichtiger werden, muss man weder Experte noch Zukunftsprognostiker für das Jahr 2023 sein. Beides (gähn!) traf bereits auf das Jahr 2022 zu. Vermutlich fehlte in dieser Liste nur noch eine Prognose, um die Top 10 der Trends voll zu machen.

Und wieder füllen sich die TV-Werbeblöcke mit den rührseligen Weihnachtskampagnen der Handelswerber. Doch in diesem Jahr ist vieles anders – nur leider nicht besser.
von Thomas Koch

Weiter geht‘s mit „Das kommende Jahr wird zum Jahr der Communities avancieren“ (schon wieder oder immer noch?) und Allgemeinplätzen wie „Kuratierter Content, vorgestellt durch Markenbotschafter:innen aus dem Unternehmen oder Creatorn, erhöht das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Marke und stärkt die Loyalität“ oder Binsen wie „Veränderung bedeutet auch immer Chance“ sowie „Marken, die schon auf Instagram präsent sind, laden engagierte Brand Lover und Influencer in Gruppen ein und fördern so echte Begegnungen und Interaktionen.“

Doch Obacht! „Avatare trenden – sind jedoch nicht risikofrei.“ Und man fragt sich unweigerlich, wie viele Unternehmen demnächst Avatare im Einsatz haben werden und ob diese 0,1 Prozent zum Trend taugen...

Wir lesen, dass Konversation mit der Community wichtig ist. Dass wir die Macht übergeben müssen an quirky Communitys mit vielfältigen Interessen. „Personas sind von gestern, jetzt kommen Communitys“ macht einem mehr Angst als der angebliche Trend sollte, denn die Unternehmen hatten gerade mühsam ihre Personas installiert. Es war wohl leider vergebens. Und laut „The Verge“ verliert TikTok schon jetzt seinen USP (einzigartigen Content) und wird schon wieder langweilig. Man sollte Marketing besser raten, Dinge einfach auszusitzen.

Ein empfehlenswerter und ein ausgeblendeter Trend fürs Marketing

Der empfehlenswerteste Trend kommt daher von Miriam Rupp (Mashup Communications): „Statt hektisch dem nächsten Hype zu folgen, sollten sich Marken auf ihre Werte und ihre Vision besinnen und ihr Narrativ bewusst aufbauen.“ Danke an eine Expertin mit gesundem Menschenverstand.

Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass es auch Stimmen gibt, die gar eine Neudefinition der Agenturlandschaft erwarten. Gemeint ist ein stärkerer Fokus auf Kreativität. Das wäre relevanter, stünden wir vor dem Jahr 2013. So ist es nicht mehr als ein Blick auf die offensichtlichen Defizite der letzten zehn Jahre.

Natürlich gibt es für 2023 Trends zu (noch) mehr Video, zu (noch) mehr Authentizität, zu KI-gestützten Maßnahmen, Strategien nach dem Ende der Third Party Cookies, aber nur Olaf-Peters Kim (Welect) erinnert uns daran, „dass digitale Nachhaltigkeit im kommenden Jahr zur Mindestanforderung wird“. Diesen Trend blenden die meisten Experten bewusst aus. Da es jedoch der mit Abstand wichtigste Trend ist, können wir die ganze Kaffeesatzleserei an dieser Stelle beerdigen.

Ina von Holly (We Do Communication) formuliert es in einem Beitrag für das Magazin „Markenartikel“ mit Nachdruck: „Um Unternehmen gründlich und nachhaltig zu verändern, dazu braucht es mutige Arbeit an der Zukunftsfähigkeit für Nachhaltigkeit. Es braucht den Fokus und den Freiraum und ein radikales Umdenken. Die Aufgaben sind zu dringlich, als das man warten könnte, bis die Nachhaltigkeitsstrategie fertig ist.“

Und eine der zu guter Letzt wichtigsten Empfehlungen stammt von Ralf Scharnhorst: „Werbung im Metaverse – können wir uns sparen“. Basta.

„Werbung für niemanden“

Bemerkenswert, aber höchst bedenklich ist, dass sich nicht einer der Experten bemüht, das Hauptproblem des Marketings der Gegenwart zu lösen: die Tatsache, dass Werbung als immer unglaubwürdiger und irrelevanter empfunden wird, wie eine aktuelle Studie von Nielsen der Branche erneut bescheinigt.

Den Grund dafür will niemand in Marketing und Agenturen hören. Den weiß jedoch Marketing-Professor Oliver Errichiello: „Die Werber leben in einer Blase, die nur noch wenig mit den Werten eines breiten Querschnitts der Deutschen zu tun hat.“ Sie schaffen Werbung, die „von normalen Menschen als irrelevant wahrgenommen wird“. Sein stärkster Vorwurf an die Werber jedoch lautet: „Die Marken geben viel Geld aus. Doch sie zeigen Werbung für niemanden.“

Rezept zum Reichwerden? Das steckt hinter dem System von Deven Schuller

Ein selbsternannter Finanzexperte will seinen Kunden laut eigener Aussage dabei helfen, finanzielle Freiheit zu erreichen, und pflastert das Internet mit Werbung. Was steckt dahinter? Ein Selbstversuch.

Freiberufler-Report So viel verdienen Selbstständige in Deutschland

Zwei Euro mehr pro Stunde – und kaum noch ein Gender Pay Gap: Selbstständigen geht es auch in der aktuell schwierigen Lage recht gut. In welchen Bereichen sie am meisten verdienen.

Leistung Warum Manager es ihren Mitarbeitern nicht zu gemütlich machen sollten

Wenn sich Mitarbeiter sicher fühlen, bringen sie bessere Leistung. Das zumindest ist die Hoffnung. Tatsächlich ist oft das Gegenteil der Fall.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Wenn die Werber dieses Hauptproblem – ihr eigenes „Produkt“ Werbung – im nächsten Jahr nicht lösen, wird die Kluft zwischen Werbern und ihren Zielgruppen noch weiter wachsen und das Jahr 2023 zu einem Debakel, an das wir noch lange zurückdenken.

Lesen Sie auch: Vier einfache Regeln bewahren Sie vor dem PR-GAU auf Social Media

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%