Werbesprech

Die Werbung hat Unwucht

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Die digitale Überschätzung

Eine australische Studie zeigt, dass Marketers und Werber die Nutzung digitaler Medien maßlos überschätzen. So glaubten die Fachleute, dass 89 Prozent der Menschen Instagram nutzen, während es in Wirklichkeit in Australien nur 33 Prozent sind. Auch bei Netflix (78 vs. 28 Prozent) lagen die Werber peinlich daneben. Bei einer Befragung in Deutschland käme man vermutlich zu einem sehr ähnlichen Ergebnis.

Von Ernst Litfaß bis Bibis Beauty Palace
Werbung ist ein alter Hut. Aber sie kann immer neue Formen annehmen. In Deutschland lagen die Werbeausgaben 2015 nach Marktanalysen der Firma Nielsen bei über 29 Milliarden Euro (Brutto). Wichtige Werbeformen im Überblick. Quelle: obs
Mit dem Aufkommen von Tageszeitungen im 17. Jahrhundert konnte erstmals Werbung im großen Stil verbreitet werden. Die Annoncen dort waren anfangs nicht vom journalistischen Teil zu unterscheiden. Bald etablierten sich spezielle Werbezeitungen, in denen Händler gegen Bezahlung ihre Waren eintrugen. Quelle: DPA
Die Zeitungswerbung gehört noch heute zu den klassischen Formen. Während Verlage früher Höchstpreise für Werbeplätze in ihren Tageszeitungen, Magazinen und Broschüren verlangen konnten, änderte sich dies mit dem Internet und Suchmaschinen wie Google. Die Werbeumsätze der Printmedien sind insgesamt rückläufig, noch bleiben Tageszeitungen weiter der zweitstärkste Werbeträger in Deutschland. Quelle: DPA
Mit der „Annonciersäule“, nach dem Berliner Verleger Ernst Litfaß auch Litfaßsäule genannt, begann Mitte des 19. Jahrhunderts das Zeitalter der Plakatwerbung. Entscheidend war, „dass die Litfaßsäule das wilde Plakatieren im öffentlichen Raum beendete“, sagt Medienwissenschaftler Steffen Damm von der FU Berlin. Die „Anschlagsäule für die Außenwerbung“ stiftete nicht nur Ordnung, sondern war als Massenmedium auch kostenlose Informationsquelle. Quelle: DPA
Schon von Beginn an wurden schlaglichtartige Überschriften und einprägsame Slogans formuliert. Mit der „runden Sache“ kam ein Wirtschaftszweig auf, heute Out-of-Home-Medien - Außer-Haus-Medien - genannt, der auch 2015 einen Werbeumsatz im Milliardenbereich erwirtschaftete. Derzeit gibt es rund 330 670 klassische Plakate auf Säulen, Großflächen und Citylight-Postern. Quelle: DPA
Auch im Smartphone-Zeitalter ist die Säule nicht aus der Mode. Rund 36 000 „Allgemeinstellen“ zählt der Fachverband Außenwerbung. Der Dinosaurier mit den geklebten Plakaten ist dank günstiger Preise immer noch beliebt. Große Firmen setzen auf schicke Versionen mit Verglasung, Licht und digitalen Werbefenstern. Quelle: DPA
Werbefilme sind so alt wie der Film. Einer der Pioniere war Julius Pinschewer, der 1912 in Berlin seine erste Firma für Filmreklame gründete. Anfang der 20er Jahre sollen jede Woche rund vier Millionen Zuschauer seine Werbefilme in über 800 Kinos gesehen haben. Quelle: DPA

Wo Unternehmen, die von Storytelling, relevantem Content und Customer Relationship Marketing faseln und ihre Kunden charmant verführen könnten, nehmen sie sie in Geiselhaft oder überrumpeln sie gnadenlos. Check-out-Prozesse, die einem Spießrutenlauf gleichen, nie abgeschlossene Verträge, unaufgeforderte Newsletter, die sich nicht abbestellen lassen - der digitale Umgang der Unternehmen mit ihren Kunden wird immer ruppiger.

Doch langsam erwachen die ersten Großkonzerne und hinterfragen ihre Beziehung zu den Endverbrauchern. Beim Jahrestreffen des globalen Consumer Goods Forum griff Danone-Chef Emmanuel Faber die eigene Branche hart an: „Wir verprellen die Konsumenten. Haben wir nicht jahrelang den Zusammenhang zwischen Kalorienzufuhr und Übergewicht geleugnet, obwohl dieser unübersehbar ist? Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem wir entweder die Wahl der Konsumenten bekämpfen, oder ihnen selbst die Alternativen anbieten.“ Die gesamte Werbebranche muss schleunigst umdenken und diesem Beispiel folgen.

Tatsächlich kauft nur jeder vierte Millennial in Deutschland Markenprodukte. Aber fast zwei Drittel der Digital Natives wird es immer wichtiger, dass Marken einen positiven gesellschaftlichen Beitrag leisten. Das ergab eine aktuelle Umfrage des Marktforschungsinstituts Ipsos. Marken mit ethischen Grundsätzen, so die Studie, sind bei den begehrten Millennials deutlich im Vorteil.

Werbung als Brechreiz

Immer mehr Werbung verursacht bei vielen Menschen eher Brechreiz und ist höchstens noch mit dem Humor eines Tom Fishburne zu ertragen. Oder Kopfschütteln, wenn einem Agenturgeschäftsführer in Düsseldorf von Monster.de ein Job als „Mitarbeiter/in Warenservice und Kasse in Ritterhude“ angeboten wird.

Wie dankbar ist man da, wenn im allabendlichen TV-Werbeblock wenigstens ab und an ein Spot wie von Samsung oder Amazon kommt, an dem man sich auch nach der dritten Wiederholung erfreuen kann.

Auf den Screenforce Days appellierte Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, an die Verantwortung, die werbende Unternehmen besitzen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Appell nicht wirkungslos verhallt.

Die Werbebranche muss dringend die entstandene Unwucht beheben, einen Gang runterschalten, den um sich greifenden Aktionismus abstellen und zur Besinnung kommen. Die Werber müssen sich ihrer Verantwortung und ihrer Aufgabe bewusst werden, bevor die Verbraucher komplett abschalten. Denn alleine der „consumer is king“.

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