Werbesprech

Hauptsache billig? Der Online-Werbe-Wahnsinn

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Digitale Meldungen aus der Hölle

Derweil erschrecken die digitalen Medien mit Horrormeldungen und falschen Zahlen. In Deutschland werden 800 Millionen Euro für Online-Werbung ausgegeben, die niemand sieht. Experten gehen davon aus, dass bis zu 90 Prozent des Online-Traffics einer Kampagne aus Bot-Traffic bestehen kann. Und eine Studie des Marketing-Analysten Ebiquity zeigt, dass 60 Prozent der programmatisch ausgelieferten Online-Werbung verschwendet sind.

Von Ernst Litfaß bis Bibis Beauty Palace
Werbung ist ein alter Hut. Aber sie kann immer neue Formen annehmen. In Deutschland lagen die Werbeausgaben 2015 nach Marktanalysen der Firma Nielsen bei über 29 Milliarden Euro (Brutto). Wichtige Werbeformen im Überblick. Quelle: obs
Mit dem Aufkommen von Tageszeitungen im 17. Jahrhundert konnte erstmals Werbung im großen Stil verbreitet werden. Die Annoncen dort waren anfangs nicht vom journalistischen Teil zu unterscheiden. Bald etablierten sich spezielle Werbezeitungen, in denen Händler gegen Bezahlung ihre Waren eintrugen. Quelle: DPA
Die Zeitungswerbung gehört noch heute zu den klassischen Formen. Während Verlage früher Höchstpreise für Werbeplätze in ihren Tageszeitungen, Magazinen und Broschüren verlangen konnten, änderte sich dies mit dem Internet und Suchmaschinen wie Google. Die Werbeumsätze der Printmedien sind insgesamt rückläufig, noch bleiben Tageszeitungen weiter der zweitstärkste Werbeträger in Deutschland. Quelle: DPA
Mit der „Annonciersäule“, nach dem Berliner Verleger Ernst Litfaß auch Litfaßsäule genannt, begann Mitte des 19. Jahrhunderts das Zeitalter der Plakatwerbung. Entscheidend war, „dass die Litfaßsäule das wilde Plakatieren im öffentlichen Raum beendete“, sagt Medienwissenschaftler Steffen Damm von der FU Berlin. Die „Anschlagsäule für die Außenwerbung“ stiftete nicht nur Ordnung, sondern war als Massenmedium auch kostenlose Informationsquelle. Quelle: DPA
Schon von Beginn an wurden schlaglichtartige Überschriften und einprägsame Slogans formuliert. Mit der „runden Sache“ kam ein Wirtschaftszweig auf, heute Out-of-Home-Medien - Außer-Haus-Medien - genannt, der auch 2015 einen Werbeumsatz im Milliardenbereich erwirtschaftete. Derzeit gibt es rund 330 670 klassische Plakate auf Säulen, Großflächen und Citylight-Postern. Quelle: DPA
Auch im Smartphone-Zeitalter ist die Säule nicht aus der Mode. Rund 36 000 „Allgemeinstellen“ zählt der Fachverband Außenwerbung. Der Dinosaurier mit den geklebten Plakaten ist dank günstiger Preise immer noch beliebt. Große Firmen setzen auf schicke Versionen mit Verglasung, Licht und digitalen Werbefenstern. Quelle: DPA
Werbefilme sind so alt wie der Film. Einer der Pioniere war Julius Pinschewer, der 1912 in Berlin seine erste Firma für Filmreklame gründete. Anfang der 20er Jahre sollen jede Woche rund vier Millionen Zuschauer seine Werbefilme in über 800 Kinos gesehen haben. Quelle: DPA

Zu Fake-News kommen Fake-Zahlen

Facebook wurde immer wieder überführt, überhöhte Zahlen zu liefern. Nun stehen ihre Nutzerzahlen in der Kritik. Nach einem von ihnen veröffentlichten Bericht erreichen sie 1,5 Millionen Schweden im Alter von 15 bis 24 Jahren. Doch von ihnen gibt es nur 1,2 Millionen. Für die USA meldet der Facebook-Ad-Manager eine Reichweite von 41 Millionen im Alter von 18 bis 24. Dort leben jedoch nur 31 Millionen in dieser Altersgruppe. Ebenso bei 25- bis 34-jährigen Amerikanern: Es gibt davon 45 Millionen, doch Facebook erreicht angeblich 60 Millionen.

In UK verzeichnet Facebook ein „potential reach“ von zwei Millionen mehr 18- bis 24-Jährigen als laut Zensus existieren. In Australien melden sie 1,7 Millionen mehr Menschen in der Altersgruppe 15 bis 40 Jahre, als dort überhaupt leben. In Deutschland liegt Facebook ebenfalls um drei Millionen neben der Spur und behauptet in der Altersgruppe der Twens (20 bis 29 Jahre), von denen es 9,2 Millionen gibt, eine Reichweite von stolzen 12 Millionen.

Verständlich, dass der Werbekundenverband OWM immer eindringlicher fordert: „Online-Werbung muss endlich erwachsen werden“. Das Bewusstsein dafür, wie wichtig den Werbungtreibenden Themen wie Sicherheit, Transparenz und Qualität sind, sei bei den Anbietern „erschreckend gering“. Susanne Kunz, Mediachefin von Procter & Gamble, beschreibt das Problem mit den Worten: "Wir erleben momentan in Digital einen großen Vertrauensverlust und viel Verunsicherung."

Kaum eine Zahl, die von den Online-Anbietern geliefert wird, ist überprüfbar. Viele erweisen sich schlichtweg als falsch. Umso erstaunlicher ist, dass Werbekunden und Agenturen dennoch immer mehr Geld in die digitalen Medien pumpen.

Online only begünstigt AfD

Genau in dieses Horn stößt der Appell der G+J-Frontfrau Julia Jäkel. Während sie an das politische Gewissen der Unternehmen appelliert, fordert "Zeit"-Chef Rainer Esser mehr gesunden Menschenverstand: „Die Qualitätspresse hat sich über viele Jahrzehnte hinweg das Vertrauen ihrer Leserinnen und Leser erarbeitet. Marken wie "FAZ", "Süddeutsche", "Handelsblatt" oder "Die Zeit" stehen für zuverlässige Information und Orientierung in einer Welt, die immer schneller und komplexer wird.“

Der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Schweiger verweist angesichts der Zuwendung vieler Wähler zu Parteien mit antidemokratischen Tendenzen wie der AfD auf ein weiteres Problem: Viele Wähler unterlägen einem Irrtum, seien unzureichend informiert. Dabei spiele die Mediennutzung eine entscheidende Rolle. Es wachse der Anteil jener, die sich nur noch im Internet informierten.

Demnach geht es bei der Diskussion über den Fortbestand von Qualitätsmedien um weitaus mehr als nur um Appelle an Gewissen und Menschenverstand. Vielmehr geht es darum, zuverlässige Medienplattformen zu erhalten, die Werbungtreibende auch in Zukunft dringend benötigen werden, um gebildete, kaufkräftige und daher besonders attraktive Zielgruppen werblich überhaupt zu erreichen. Selbst wenn das Unternehmen wie Allianz, Commerzbank, Conti & Co vor lauter Effizienzwahn und digitaler Besoffenheit offenbar nicht mehr erkennen.

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