Werbesprech
Dmexco: Wie die Werbe- und Marketingbranche versagt hat

Dmexco diskutiert das Versagen der Werbebranche

Die Dmexco ist die digitale Show der Superlative. Doch statt nur mit neuer Technologie zu glänzen, muss sie endlich die Konsumenten in den Fokus rücken und das Buzzword-Bingo der vergangenen Jahre beenden.

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Die Dmexco steht vor der Tür. Am 12. und 13. September blickt die Netzwelt gespannt nach Köln. Das Motto erweckt den Anschein eines Neubeginns: „Take C.A.R.E“. CARE steht für Curiosity, Action, Responsibility, Experience. Also: „Bleibt neugierig, handelt bewusst, übernehmt Verantwortung und schafft besondere Erlebnisse.“ Nachdem die Messe in den letzten Jahren zum reinen Technologie-Zirkus mutierte, klingt die Aufforderung, Verantwortung zu übernehmen, als wolle man sich erstmals auch den Problemen der Branche widmen.

Und davon gibt es reichlich. Während ausgerechnet die Milliardäre im Silicon Valley, also die Gates‘, Jobs‘, Cooks und Zuckerbergs, das Internet und Smartphones von ihren Kindern fernhalten, gibt es für die Branche nicht viel zu Lachen. Eine Exklusivumfrage von Horizont zeigt, dass die Nutzer Onlinewerbung als extrem nervig empfinden. Drei Viertel der User fühlen sich durch die Werbung im Netz gestört, ganz besonders von allen Werbeformaten, die sich in den Vordergrund drängen.

Adblocker steigen ins Unermessliche

Kein Wunder also, dass die Zahl der eingesetzten Adblocker, die den User für jegliche Werbung unerreichbar machen, immer weiter steigt. „Eine repräsentative Studie weist erstmals nach, dass alle offiziellen Zahlen zur Adblocker-Verwendung viel zu niedrig sind“, vermeldet iBusiness. Während der Onlinevermarkterkreis OVK die Adblockerrate in Deutschland auf weniger als 25 Prozent schätzt, belegt nun eine Studie von Splendid Research im Auftrag der Marketing-Fachzeitschrift ONEtoONE, dass fulminante 43 Prozent der User Adblocker installiert haben. Die Zahl der Online-Werbeverweigerer ist demnach fast doppelt so hoch wie bislang angenommen. Besonders ärgerlich für Werbungtreibende ist, dass die Adblockerrate mit dem Einkommen steigt: „In der besonders interessanten Zielgruppe mit einem Nettoverdienst von über 7500 Euro sind es 64 Prozent, die mit Adblockern im Netz unterwegs sind.“

Marketing Week berichtet aus Großbritannien, dass im 2. Quartal dieses Jahres 42 Prozent aller Display-Anzeigen nicht gesehen werden konnten, also im für Nutzer nicht sichtbaren Bereich ausgeliefert wurden. Im 4. Quartal 2017 lag dieser Wert in Deutschland sogar bei 45 Prozent. Grund dafür war offenbar das hohe Werbeaufkommen. Inzwischen erholt sich der Wert, aber es bleibt dabei, dass fast die Hälfte der ausgelieferten Werbung nicht gesehen werden kann.

Künstliche Intelligenz erobert Werbung: Mimik-Analyse für personalisierte Anzeigen

Was die Branche dabei gerne verschweigt, ist, dass die enorm hohe Ablocker-Nutzung dazu führt, dass demnach maximal ein Viertel aller Menschen von einem Werbemittel überhaupt erreicht werden können. Diese katastrophal niedrige Reichweite ist der Grund dafür, dass Online sich nie zu einem Massenmedium für Werbung entwickeln wird. Die klassischen Medien TV, Radio, Außenwerbung und Print erreichen dagegen täglich 60 bis 80 Prozent aller Menschen.

Eine aktuelle Studie des renommierten Ehrenberg-Bass Institute („Are Big Brands Dying“) räumt mit diversen Werbe-Mythen auf und kommt zu dem Schluss, dass führende Marken viel Geld für Onlinewerbung vergeuden. Display-Werbung, insbesondere die programmatisch ausgelieferte, würde heimgesucht von Betrug, non-human-Traffic, überhöhten Kosten für Zwischenhändler und eben einem Mangel an Sichtbarkeit.

Während der Facebook-Datenskandal um Cambridge Analytica noch nicht verdaut ist, enthüllt die Nachrichtenagentur AP, dass Google die Menschen auch dann weiter verfolgt und überwacht, wenn sie den Standortverlauf („location history“) löschen. Und die „New York Times“ berichtet von einem gewaltigen Betrug mit gefälschten YouTube-Views, der Werbungtreibende Abermillionen kostet. Die betrügerischen, professionellen Verkäufer der Fake Views konnten bislang nicht gestoppt werden. Im Gegenteil: Der YouTube-Mutterkonzern Google listet sie allesamt auf seiner Suchseite auf und befeuert den Betrug damit selbst.

Auch Facebook kommt nicht aus den Schlagzeilen heraus. Erst bedrohten sie bei einem Meeting australische Medien: Wenn sie nicht mit Facebook kooperierten, sagte angeblich Facebook-Managerin Campbell Brown, würde ihr Geschäft sterben und sie in einem Hospiz enden.

Dann legt eine Studie der University of Warwick einen beängstigenden Zusammenhang zwischen der Nutzung von Facebook und Attacken auf Migranten in Deutschland nahe. Die britischen Forscher hatten 3335 Angriffe auf Flüchtlinge untersucht und festgestellt, dass sich die Gewalt in Städten häuft, in denen Facebook und insbesondere die AfD-Facebook-Seite häufig genutzt werden.

Schuld daran, so die Interpretation, ist der Facebook-Algorithmus, der uns überproportional Meldungen in die Timeline schickt, die wir besonders gerne lesen. Das wirke auf die Meinungsbildung wie ein Brandbeschleuniger. Die Methodik der Studie wird inzwischen kritisiert, dennoch bleibt die Zunahme der Hasskommentare im Netz ein großes Thema, das nur mit Unterstützung der Plattform-Anbieter gelöst werden kann.

Das Web hat versagt

Dessen ungeachtet beschäftigt sich die Dmexco 2018 überwiegend mit neuen Technologiestandards von Smart Data bis Künstlicher Intelligenz und den gewiss faszinierenden Möglichkeiten, die sich daraus für Marketing und Werbung ergeben.

Volker Schütz, Chefredakteur von Horizont hält dagegen und fordert die Branche auf, die Technologie zu vergessen und stattdessen besser an die Konsumenten zu denken. Er beklagt das „schauerliche Buzzword-Bingo“ der Dmexco und fordert, den Menschen ins Zentrum der digitalen Marketing-Aktivitäten zu stellen. Horizont-Chefreporter Jürgen Scharrer pflichtet ihm bei: „Das Verständnis der menschlichen Psyche, kreatives Talent und ein Gespür für den Zeitgeist sind um Lichtjahre wichtiger als die Kunststücke der so gefeierten Data-Analysten.“

Tim Berners-Lee, der Erfinder des WWW erklärt, er sei angesichts der Entwicklung „am Boden zerstört“. Das Web habe beim Dienst am Menschen versagt: „We demonstrated that the Web had failed instead of served humanity, as it was supposed to have done, and failed in many places.“

Das Motto der diesjährigen Dmexco suggeriert, dass es dem Veranstalter nicht nur um Technologie, sondern endlich auch um den Konsumenten geht. Daran wird sie sich messen lassen müssen. Noch sieht es nicht so aus, als würden die Aussteller und Teilnehmer diese Verantwortung übernehmen. Dann hätten auch sie versagt.

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