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In Deutschland verbrennen Unternehmen Milliarden Euro an Werbegelder. Quelle: imago images

In Deutschland werden Milliarden Euro Werbegelder verbrannt

Der Onlinewerbebetrug nimmt erschreckende Ausmaße an. Der Schaden für Werbekunden beläuft sich jedes Jahr auf eine Milliarde Euro, womöglich deutlich mehr. Die Branche muss handeln.

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An dieser Stelle war im Mai zu lesen, dass namhafte deutsche Unternehmen auf fragwürdigen und eindeutig extremistischen Websites werben und mit ihrem Werbegeld Hate und Fake News-Publisher wie Breitbart und Epochtimes unmittelbar finanzieren. Bei der Veröffentlichung waren es noch 180 Werbetreibende. Inzwischen ist deren Zahl auf beängstigende 660 Kampagnen angewachsen.

Tatsächlich geben Werber weltweit 2,6 Milliarden Dollar auf Websites mit Falschinformation aus. Etwa 5 Prozent aller in Onlinemedien investierten Werbegelder werden sogar Opfer massiver „Brand Safety“-Probleme: Die digitale Werbung erscheint auf Plattformen, Websites oder Youtube-Kanälen, die Haltung und Image der Unternehmensmarken beschädigen. Das, schrieb ich hier im Frühjahr, könne unmöglich der Sinn bezahlter Werbung sein.

Werbung, die nur von Maschinen gesehen wird

Doch nun zeigt sich klar und belegbar, dass solche Brand Safety-Probleme nur die Spitze eines Eisbergs gewaltigen Ausmaßes sind. Unsere werbungtreibende Wirtschaft verbrennt jedes Jahr zehnstellige Summen, weil ihre Banner und Videos an Bots gesendet werden. Die Werbung wird von realen Menschen nicht gesehen. Das Stichwort lautet: Ad Fraud, der Betrug mit Onlinewerbung.

Ad Fraud ist in der Werbebranche seit Jahren ein Thema. Es wird jedoch tabuisiert – mit der Folge, dass man einer Lösung keinen Schritt näherkommt. Bereits 2019 ermittelten die Datenanalysten von CHEQ AI Technologies den durch systematischen Betrug verursachten Schaden auf weltweit 23 Milliarden Dollar. Die Tech-Marktforscher von Jupiter Research bezifferten den Schaden auf 42 Milliarden. Für 2023 prognostizieren sie einen Gesamtschaden von 100 Milliarden Dollar.

Zwei Drittel aller Onlineanzeigen betrugsverdächtig

Welcher Anteil der Displaywerbung ist dadurch von Onlinebetrug betroffen? Den weltweiten Aufwand für digitale Werbung schätzt eMarketer in diesem Jahr auf 455 Milliarden Dollar. Davon fließen in Search 40 Prozent und 55 Prozent in Display-Werbung, somit 250 Milliarden Dollar. Nimmt man einen derzeitigen Schaden von 60 Milliarden Dollar an, entspräche das 25 Prozent aller digital ausgelieferten Anzeigen. Jede vierte Anzeige wäre von Ad Fraud betroffen.

Wie sich zeigt, ist dies eine eher vorsichtige Schätzung. Der tatsächliche Schaden ist offensichtlich deutlich höher. Der weltweit führende Ad Fraud-Forscher Dr. Augustine Fou analysiert die Auslieferungsqualität von Onlinekampagnen und untersucht mithilfe seiner Tools die Sichtbarkeit der Anzeigen – vor allem aber auch, ob sie an Menschen oder Bots ausgeliefert wurden.

In einem aufsehenerregenden Beitrag für das Wirtschaftsmagazin Forbes ermittelte Fou „Average Fraud Rates“ als Momentaufnahme für zahlreiche Länder. Danach werden in den USA zwei Drittel aller programmatisch ausgelieferten Onlineanzeigen an Bots ausgeliefert und von Menschen nicht gesehen. Für Deutschland errechnet er eine sogar noch höhere Fraud Rate von deutlich über 70 Prozent. Diese Erkenntnisse werden vom deutschen Markt bislang totgeschwiegen.

Da auch jede an Bots ausgelieferte Anzeige an die Werbekunden als „Ad Impression“ dokumentiert und abgerechnet wird, ist der Betrug perfekt: Der Werbekunde zahlt für Werbung, die nicht von Menschen gesehen wird. Er ist der einzig Leidtragende dieses Betrugs, denn die Agenturen ebenso wie die zahlreich eingesetzten Dienstleister entlang der höchst rentablen Online-„Wertschöpfungskette“ erhalten alle ihr Honorar.

Das klingt so unglaublich, dass es einer Verifizierung bedarf. Die liefert eine Barracuda-Studie, die zum gleichen Ergebnis kommt, dass Bots für zwei Drittel des Online-Traffics verantwortlich sind. Man differenziert zwischen 25 Prozent „guten“ Bots („search engine crawlers and social network bots“) und 39 Prozent „bösen“ Bots. Auf „human traffic“, also Menschen, entfallen auch hier nur 36 Prozent.

„Confirmed“ und „Likely“ Humans

Weiter stellt Barracuda fest, dass zwei Drittel der „bösen“ Bots in den USA identifiziert werden, während Europa für 22 Prozent des weltweiten Böse-Bot-Aufkommens verantwortlich ist. Dies ist ein ernstzunehmender Hinweis für hiesige Experten, die gebetsmühlenartig behaupten, Deutschland bliebe von Bot-Traffic weitgehend verschont, ohne jedoch Beweise für ihre These vorzulegen – in krassem Widerspruch zu den Berechnungen von Dr. Fou.

Doch in Europa mangelt es keinesfalls an Erkenntnissen zu diesem für Werbekunden beunruhigenden Thema. Michael M. Maurantonio, langjähriger Mediaexperte und Partner der Agentur HOT AG, arbeitet seit vielen Jahren mit Dr. Fou zusammen und ist an der Weiterentwicklung der Tools beteiligt. Er auditiert Onlinekampagnen in der Schweiz und Österreich auf Auslieferungsqualität und Sichtbarkeit. Erste Audits in Deutschland sind in Vorbereitung.

Ein von Maurantonio dokumentierter Fall weist für eine Schweizer Kampagne 23 Millionen Ad Impressions in einem Kampagnenmonat aus. Davon wurden 1 Prozent an „confirmed humans“ (bestätigte, menschliche Nutzer) und weitere 4 Prozent an „likely humans“ (vermutlich menschliche Nutzer) ausgeliefert, 19 Prozent blieben nicht zuordenbar („unknown“) und 76 Prozent entfielen an Bots: sogenannter „non-human traffic“.

Gewiss ein Einzelfall, jedoch kein ungewöhnlicher. Der Experte schätzt, dass im Schnitt etwa 10 Prozent der Online-Anzeigen in der Schweiz, Österreich und Deutschland an „confirmed humans“ ausgeliefert werden. Somit läge bei programmatischer Online-Werbung der finanzielle Schaden für eine beliebige Kampagne bei bis zu 90 Prozent des Etats.

Es geht um ungeheuer viel Geld: In diesem Jahr erwartet die deutsche Online-Branche für den Displaywerbemarkt einen Nettoumsatz von 5,07 Milliarden Euro: eine Steigerung von 23 Prozent gegenüber dem bereits guten Vorjahr. Zwei Drittel hiervon (3,4 Milliarden Euro) werden programmatisch ausgeliefert, so dass sie Opfer von Onlinewerbebetrug werden können. Der Markt arbeitet übrigens nach Kräften daran, diesen Anteil baldmöglich auf 100 Prozent zu steigern.

Money follows fraud

Nun gilt es zu ermitteln, wie viel Geld deutsche Werbungtreibende jedes Jahr an Betrüger verlieren. Um es deutlich zu sagen: Es geht nicht um Streuverlust, wie ihn Henry Ford und der „Vater der modernen Werbung“ John Wanamaker einst mit „Ich weiß, die Hälfte meiner Werbung ist hinausgeworfenes Geld…“ meinten. Es handelt sich hierbei um systematischen Betrug.

In Deutschland werden für programmatische Displaywerbung in diesem Jahr 3,4 Milliarden Euro investiert. Dem Onlinewerbebetrug fallen zwischen 25 (Jupiter) und mehr als 70 Prozent (Fou) zum Opfer, im Schnitt also jede zweite Anzeige. Nehmen wir an, Deutschland hätte sich gegen diesen Betrug tatsächlich als einziges Land der Welt und besser als jedes andere bewaffnet und es wären hierzulande nur ein Drittel. Dann würden deutsche Werbungtreibende jedes Jahr mehr als eine Milliarde Euro an systematische Online-Betrüger überweisen.

Doch das ist ein geschönter Best Case. Rechnen wir hingegen ein Mittel aus 25 und 90 Prozent („confirmed humans“), kommen wir auf fast 60 Prozent Betrugsanteil und eine Summe von zwei Milliarden Euro. Die Wahrheit wird – wie immer im Leben – in der Mitte liegen: bei 1,5 Milliarden. Diese gewaltige Summe geht deutschen Werbern jedes Jahr verloren.

Die Werbung folgte stets der Regel „money follows eyeballs“: Wohin sich die Augen der Endverbraucher wenden, dorthin fließt auch das Werbegeld. Inzwischen sieht es danach aus, als würden sich die Werber blinden Auges Bot-Betrügern zuwenden: „money follows fraud“.

Das Unheil nimmt seinen Lauf

Das hat es noch nie gegeben: Werbekunden überlassen Betrügern – ohne von ihren Dienstleistern gewarnt zu werden – freiwillig zwischen einer und zwei Milliarden Euro ihres Marketinggeldes. Jedes Jahr.

Deutsche Medien und Publisher, denen jenes Geld entgeht, verhalten sich angesichts dieser bedenklichen Entwicklung erstaunlich zurückhaltend. Wenn bald die digitalen „Frenemies“ Google (verantwortlich für fast die Hälfte aller Anzeigen auf Fake News-Seiten, Facebook und Amazon auch hierzulande die Hälfte aller Werbegelder auf sich ziehen, verlieren sie zusätzliche Milliarden Euro Werbeumsatz – und viele zwangsläufig ihre Existenz.

Als bislang Einziger erhebt Philipp Welte, Burda-Vorstand und Vizepräsident des VDZ seine Stimme und attackiert die US-Plattformen scharf: „Google, Facebook und Amazon machen inzwischen ein Drittel des gesamten deutschen Werbemarktes aus, in den USA landen 90 Cent von jedem digitalen Werbe-Dollar bei diesen drei Unternehmen. Da der Werbekuchen kaum größer wird, geht das Wachstum der Digital-Plattformen vollständig zulasten der anderen Mediengattungen. Was wir erleben, ist in letzter Konsequenz eine Marginalisierung der journalistischen Medien auf dem Werbemarkt.“

Vielen Marketingverantwortlichen ist der Online-Betrug, der sie unverschuldet trifft, in Ansätzen bewusst. Nicht jedoch die Tragweite. Sie dürfen um jeden Tag froh sein, an dem weder CFO noch CEO an die Tür klopfen und unangenehme Fragen stellen. Oder wenn Aktionäre hellhörig werden, weil ihre Investitionen verbrannt werden und augenscheinlich niemand etwas dagegen unternimmt. Marketing muss lernen, Verantwortung auch für das Mediabudget zu übernehmen.

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Unser Marketing braucht mehr Sicherheit im Umgang mit Onlinewerbung. Eine Sicherheit, die ihnen Agenturen und Dienstleister derzeit nicht geben. Wir brauchen belastbare Zahlen zum Onlinebetrug in Deutschland. Und mehr Rückenwind aus dem Lager der Media-Experten sowie hiesiger Medien. Denn wer Onlinewerbung bei vertrauenswürdigen deutschen Online-Publishern und den klassischen Medien TV, Print, Plakat, Radio und Kino für seine Media-Kampagne nutzt, spricht zu Menschen aus Fleisch und Blut. Das war bisher ein Fakt, über den nicht diskutiert werden musste. Wenn die Onlinebranche nicht bald reagiert, ist es der einzige Ausweg aus dem Dilemma.

Mehr zum Thema: Brand Safety ist eines der essenziellen Probleme der Internetwerbung. Es bedeutet jedoch mehr als nur Schaden von der eigenen Marke abzuwehren. Es geht um Größeres: die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen.

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