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Quelle: Verbraucherzentrale Hamburg

Müsli-Mogelpackung: Schämt euch, Seitenbacher!

Seitenbacher schießt den Marketing-Vogel ab: Während sich mehr Unternehmen um Haltung und Kundenorientierung bemühen, enttäuscht der Müsli-Hersteller seine Käufer mit Mogelpackungen. Eine Kolumne.

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Marketer und Werber müssen sich zwangsläufig und regelmäßig mit Innovation oder Neuorientierung im Markt beschäftigen. Manches davon ist mehr als nur ein Buzz. Dazu gehört die Forderung nach Haltung („Purpose“) und „Customer Centricity“, der vielgerühmten Orientierung an den Wünschen der Kunden.

Dass Purpose mehr fürs Geschäft bedeutet als eine „nice-to-have“ Werbe-Phrase, zeigen Forschungsergebnisse, die inzwischen auf den meisten Schreibtischen der Marketing-Experten wie auch der Unternehmenslenker liegen dürften. Unternehmen mit Haltung steigern ihre Gesamtperformance, die Mitarbeiterbindung, den Markenwert und beflügeln damit sowohl die Neukundengewinnung als auch ihren Umsatz signifikant.

Doch bis Buchen in Baden-Württemberg hat sich das noch nicht herumgesprochen. Dort im beschaulichen Odenwald ist der Firmensitz des Naturkost-Herstellers Seitenbacher, der auf seiner Website prahlt: „Wir wollen, dass unsere Kunden gesund hundert Jahre alt werden.“

Jeder kennt Seitenbacher. Das verdanken sie ihrer Werbung, die für manche Verbraucher Grund genug ist, auf der Stelle ihr Radio auszuschalten. Die monoton-schwäbische, x-fach in jedem Spot wiederholte Nennung der Marke Seitenbacher ist für einige Müsli-Liebhaber gar ein Grund, die Produkte des Hauses niemals zu kaufen. Doch die Werbung wirkt. Sie genießt bisweilen Kultstatus und inspiriert selbst Komiker wie Paul Panzer.

Seit Kurzem schlägt das Unternehmen jedoch ein neues Kapitel seiner Geschichte auf. Bald kennt fast jeder Seitenbacher auch als den zweifelhaften Gewinner des von der Hamburger Verbraucherzentrale alljährlich ausgelobten Negativ-Preises „Mogelpackung des Jahres“.

Der Mogel-Weltmeister

In den vielen Jahren, in denen die Verbraucherschützer Verbraucher selbst abstimmen lassen, welche Marke durch Umverpackungen und versteckte Preiserhöhungen den wenig begehrten Preis gewinnt, finden sich in jedem Jahr auch große, bekannte Marken. So „gewann“ 2019 Miracoli, 2018 Chipsletten und 2017 Vitalis von Dr. Oetker.

In diesem Jahr feiert die Abstimmung, an der mehr als 21.000 Verbraucher teilnahmen, einen traurigen Rekord. Erstmals sind alle fünf der ersten Plätze von bekannten Markenartikeln belegt: Seitenbacher mit großem Abstand an erster Stelle mit über der Hälfte der abgegebenen Stimmen, gefolgt vom Milka-Osterhasen und dem Weihnachtsmann von Mondelez, Ferrero Kinderschokolade, Whiskas von Mars und der Minisalami von Bifi.

Die Verbraucherzentrale Hamburg kommentiert das diesjährige Ergebnis: „Das „Frucht Müsli“ von Seitenbacher ist zur „Mogelpackung des Jahres 2020“ gewählt worden – mit deutlichem Vorsprung. Der Hersteller hatte die Frühstücksflocken als vermeintlich neues Produkt mit geringerer Füllmenge eingeführt und der Handel gleichzeitig den Preis angehoben. Die Politik muss endlich etwas unternehmen.“

Nahe am Wucher

Die geradezu dreiste Preiserhöhung belief sich auf nicht weniger als 75 Prozent: „Die Füllmenge wurde von 1000 auf 750 Gramm reduziert und gleichzeitig im Handel der Preis erhöht, sodass daraus unterm Strich eine versteckte Preiserhöhung von 75 Prozent resultiert.“ Das ist noch zurückhaltend formuliert, denn diese „Preiserhöhung“ empfände mancher als justiziablen Wucher, dem Seitenbacher nur deshalb entgeht, weil der Preis nicht verdoppelt, sondern schlauerweise „nur“ um 75 Prozent angehoben wurde.

Nach der Veröffentlichung entwickelte sich in den sozialen Medien ein veritabler und verständlicher Shitstorm der Empörung gegen den Müsli-Produzenten, der es bislang nicht für nötig befand, hierzu Stellung zu nehmen, sich zu entschuldigen oder den Preis zu korrigieren.

Die Äußerungen reichten von Boykottaufrufen bis zu Betrugsvorwürfen, von „Mogelmüsli – von Seitenbacher“, „Ihr solltet euch schämen“, „Super, ausgerechnet die Firma, die so viel Wert auf Gesundheit und Umwelt setzt, Pfui“, „Wer 25 Mio. € für Werbung ausgibt, muss woanders mogeln, damit sich das rechnet“ bis zu „Unternehmensverantwortliche, die den Hals nicht vollbekommen und raffgierig sind, sind ein ernstes Problem der ungezügelten Wirtschaft. Wenn mir das Unternehmen gehören würde, hätte ich die Verantwortlichen fristlos gefeuert.“

Das Versagen des Seitenbacher-Marketings

Ein Twitterer wünscht der Marketingabteilung von Seitenbacher gar „eine Woche Durchfall“. Während der Gag-Schreiber Peter Wittkamp dem Ganzen etwas Lustiges abgewinnt („Seitenbacher Müsli ist die Mogelpackung des Jahres! Aber kein Problem, falls ihr die gekauft habt: Carglass tauscht aus!“), sprach PR-Expertin Ingeborg Trampe den Ernst der Lage an: „Ich wundere mich, wie das Unternehmen glauben konnte, das würden die Verbraucher nicht merken. Ganz schön arrogant.“

Arroganz ist eine gewiss höfliche Umschreibung der Attitüde eines von Verbrauchern bislang geachteten Unternehmens. Tatsächlich ist der Marketingabteilung bei Seitenbacher hier ein heftiger Vorwurf zu machen. Das Vorgehen entbehrt jeder Haltung, jedem Respekt gegenüber den Verbrauchern und treuen Käufern der Marke.

Damit ist nicht unterstellt, dass die Initiative zur Veränderung der Füllmenge und gleichzeitiger Preiserhöhung allein den Marketingköpfen der Seitenbacher entsprang. Wenn es Produktentwickler und Vertrieb zu verantworten haben, hat das Marketing entweder nicht eingegriffen – was seine Aufgabe gewesen wäre – oder sie widersprachen der Aktion und verloren den internen Kampf. Mit einer Einschränkung: das Etikett „Neu!“ auf Ware zu kleben, die nicht neu ist, ist eine weitverbreitete Unart, die das Marketing ganz allein zu verantworten hat.

An dieser Stelle muss die Frage gestellt werden, welchen Einfluss und welches Mitspracherecht Marketing überhaupt noch in vielen Unternehmen besitzt, wie hier am Beispiel von Seitenbacher – auf die Produktgestaltung und Verpackung der Marke.

Marketing lieber gleich bleibenlassen

Die Antwort liegt auf der Hand: null. Kein(e) MarketingleiterIn würde jemals zulassen, dass das Angebot im Regal alle Bemühungen um Vertrauen, Marken-Image, Auslobung von Markenqualität und Differenzierung dermaßen konterkariert. Dass das schwer verdiente Marketinggeld, das man jedes Jahr in die Marke investiert, von einer einzigen Aktion vernichtet wird. Da kann man sich das Marketing sparen. Und die/den MarketingleiterIn gleich mit. Über Nacht steht Seitenbacher in der Marketing-Branche ebenso wie in der Öffentlichkeit für Shitstorm und Boykott statt Haltung. Für Antiwerbung statt Customer Centricity und Purpose.

Wie man es richtig macht, zeigen zwei beispielhafte Aussagen in der aktuellen Ausgabe von Absatzwirtschaft. Günther Baumgärtner, Leiter Kommunikation bei Siemens, schreibt zu seinem Wunsch für das künftige Marketing: „Dass der Wertbeitrag von Marketing und Kommunikation spätestens jetzt in der gesamten Branche dauerhaft als wertvolles Unternehmens-Asset gesehen wird.“ Und Hildegard Wortmann, Vorständin Marketing und Vertrieb bei Audi: „Für uns ist Zukunft eine Haltung, das wird sich 2021 auch in unserem Marketing zeigen.“

An diesen Aussagen müssen sich Unternehmen wie Seitenbacher messen lassen. Man darf erwarten, dass sie das von der Verbraucherzentrale beanstandete Frucht-Müsli aus dem Verkauf nehmen und sich bei ihren Käufern entschuldigen. Dass sie Haltung annehmen und Respekt dafür zeigen, dass nicht sie, sondern die Verbraucher verantwortlich sind für den unternehmerischen Erfolg der Marke. Man hätte nicht geglaubt, das im Jahre 2021 noch erklären zu müssen.

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Ein weiteres Beispiel für zeitgemäßes, nachhaltiges, kundenorientiertes Marketing liefert derzeit Beiersdorf für seine Marke Nivea. Sie präsentiert ihren neuen Marken-Purpose: „Care for Human Touch to Inspire Togetherness“. „Wir wollen mit unserem Beitrag einen Unterschied machen und nutzen die Reichweite und den Einfluss von Nivea, um über die Gesundheitsvorteile von menschlicher Berührung aufzuklären“, so Stefan De Loecker, Vorstandsvorsitzender der Beiersdorf AG.

So, Seitenbacher, jetzt seid ihr an der Reihe.

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