Werbesprech
Quelle: imago images

Werbung geht an der Realität der Menschen vorbei

In Zeiten von Krisen zeigt sich, wie gut die Werbung mit ihnen umzugehen vermag. Angesichts von Klimakrise, Krieg und Inflation ist das Urteil vernichtend: Die Werbung hat jede Bodenhaftung und jeglichen Kontakt zu den Verbrauchern verloren.

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Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) verkündet für das Konsumklima in Deutschland im Juli minus 27,4 Punkte. Das ist neuer Rekord. Seit Beginn der Erhebung im Jahr 1991 wurde noch nie ein geringerer Wert gemessen. GfK-Konsumexperte Rolf Bürkl sagt dazu: „Der anhaltende Krieg in der Ukraine sowie unterbrochene Lieferketten lassen vor allem die Energie- und Lebensmittelpreise explodieren und führen dazu, dass sich das Konsumklima so trüb wie noch nie zeigt. Vor allem der Anstieg der Lebenshaltungskosten von derzeit knapp acht Prozent drückt schwer auf die Stimmung der Verbraucher und schickt diese auf Talfahrt.“

Horizont schreibt: „Immer mehr Unternehmen reagieren auf den steigenden Kostendruck, der durch Corona und Ukrainekrieg entstanden ist. Das stellt auch das Marketing vor große Herausforderungen.“ Doch was davon ist in der Werbung zu sehen? Die Protagonisten in den Agenturen tun einfach so, als wäre nichts geschehen.

Grund zur Sorge ist reichlich vorhanden. Laut der Consumer Sentiment Survey von McKinsey haben 66 Prozent der Befragten mehr Geld für Lebensmittel und 61 Prozent mehr für Energie ausgegeben. In allen anderen Kategorien haben 30 Prozent ihren Konsum bereits deutlich reduziert und werden ihn weiter einschränken. Das betrifft Bereiche wie Kosmetik, Bekleidung, Entertainment und Reisen. 11 Prozent haben eine geplante Reise verschoben oder storniert.

Weitere Ergebnisse: Inlandsflüge (minus 47 Prozent), Freizeiteinrichtungen (minus 40 Prozent), Hotelübernachtungen (minus 36 Prozent). In der Marketingbranche müssen die Alarmglocken klingeln.

Im gleichen Atemzug sprechen die Werber von Zenith jedoch von „rosigen Aussichten“ für den deutschen Werbemarkt 2022. Man möchte sie ernsthaft fragen, ob sie tatsächlich dieselbe Welt meinen wie die ihrer Zielgruppen.

Eine sorgenbefreite Branche feiert sich selbst

Unterdessen feiert sich die Branche in Cannes. Dass das weltgrößte Kreativfestival nach zweijähriger Pause wieder an der Côte d’Azur ausgetragen werden kann, sei den Werbern gegönnt. Die Cannes Lions stünden 2022, so die Veranstalter, mehr denn je im Zeichen von Diversität, Inklusion, Nachhaltigkeit und Purpose Marketing.

Das sind große Worte. Mehr aber nicht. Denn die Wirklichkeit sah gänzlich anders aus. Werben & Verkaufen schreibt von „verpassten Chancen“: „Cannes Lions - das war ein nahtloses Anknüpfen an frühere Zeiten: ein fröhliches Sich-Selbst-Feiern. Hinterfragt wurde das eigene Tun nicht. Auch nicht vom Veranstalter. Eine verpasste Chance.“

„Völlig aus der Zeit gefallen war die Reaktion auf die Greenpeace-Aktivisten. Man versuchte, sie größtmöglich zu ignorieren. Das hatte zur Folge, dass die Umweltschützer die Festival-Macher, ja eigentlich die ganze Branche, vor sich hertrieben. Ob die Plakataktion zu Beginn, das Anlanden mit Protestbooten am WPP-Beach, die Löwen-Rückgabe auf der Bühne durch Gustav Martner (Head of Creative bei Greenpeace Nordic) oder die Protestaktion vor dem Palais: Die Frage, welche Verantwortung die Agenturen und Techdienstleister beim Kampf fürs Klima und gegen den Einsatz von fossilen Brennstoffen übernehmen sollten – die war in Cannes erst gar nicht richtig gestellt worden.“

Greenpeace erhebt schwere Vorwürfe gegen Werber

Greenpeace France hatte das Cannes-Festival dazu genutzt, um einen Werbebann für die Ölindustrie zu fordern und die Werber aufzurufen, ihre Verbindungen zur Fossilbranche zu kappen. „Die Umweltschützer wollen die Werber dazu bewegen, nicht mehr für Unternehmen zu arbeiten, deren Aktionen oder Produkte mitverantwortlich sind für Extremwetter, Vertreibungen oder internationale Konflikte. Greenpeace rechnet vor, dass seit dem Pariser Abkommen mindestens 300 Cannes Lions an Kampagnen vergeben wurden, die für mehr Flugverkehr, Öl-Unternehmen und klimaschädliche Produkte warben.

Das Festival selbst äußert sich inhaltlich nicht zu den Forderungen von Greenpeace. Auf Anfrage von W&V gab es lediglich bekannt, dass ihre Sorge allein der Sicherheit der Teilnehmenden gelte.“

Das sind schwere Vorwürfe, auf die die Branche nicht einmal nötig hat, eine Antwort zu geben. Diese Ignoranz zeigt in trauriger Deutlichkeit, wie sehr sich weite Teile der Werbebranche abgekoppelt haben von den Menschen und ihren Sorgen – und von der Realität auf unserem Planeten.

So untermauern diese Werber ihren „Anspruch“, die am wenigsten respektierte Branche der gesamten Wirtschaft zu sein. Und das extrem „nachhaltig“.

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