In seinem jüngsten Buch „Die Kunst des guten Lebens“ beschreibt der Bestseller-Autor Rolf Dobelli „Sturgeons Gesetz“. Ted Sturgeon, schreibt Dobelli, war einer der produktivsten amerikanischen Science-Fiction-Autoren der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Mit dem Erfolg kam die Häme. Immer wieder musste er sich von Kritikern Bemerkungen gefallen lassen wie: 90 Prozent der SciFi-Geschichten seien Mist. Sturgeons Antwort: Ja, das stimme schon. Doch 90 Prozent von allem, was publiziert werde, sei Schrott, egal in welchem Genre. Diese Antwort sei unter dem Label „Sturgeons Gesetz“ in die Geschichte eingegangen. In der Folge gibt Dobelli Ratschläge, wie man seinen eigenen „Bullshit-Detektor“ justieren könne. Das Buch ist lesenswert.
Was für die Literatur gilt, gilt auch für die Werbung: Mindestens 90 Prozent aller veröffentlichten Werbung sind Bullshit. Amir Kassaei, weltweiter Kreativchef der Agenturgruppe DDB, bestätigt das mit den Worten „95 Prozent der Werbung ist unkreativ“. Logisch also auch, dass 89 Prozent der Werbung überhaupt nicht wahrgenommen wird. Das behauptet die britische Werbelegende Dave Trott.
Daran dürfte viel Wahres sein. Nach der Pareto-Regel, wonach 20 Prozent der Ursache meist 80 Prozent der Wirkung entfaltet, würden – übertragen auf Werbung – nur ein Fünftel aller Werbekampagnen den Löwenanteil der Werbewirkung auf sich ziehen. Lange Zeit glaubte das Marketing auch an loyale Käufer, dass also 20 Prozent der Konsumenten für 80 Prozent des Absatzes verantwortlich seien.
Diesem Irrglauben machte der streitbare Marketing-Professor Byron Sharp ein Ende, indem er nachwies, dass in den meisten Fällen die „heavy buyers“ für lediglich 50 bis 60 Prozent aller Käufe verantwortlich sind. Demnach seien eher die seltenen Käufer die für Marketing und Werbung wichtigere Zielgruppe.
Der Selbstbetrug der Werber
Tatsache bleibt, dass die meisten Kampagnen – etwa 80 Prozent – nicht zu ihren Zielgruppen durchdringen. Spricht man Marketingverantwortliche und Werber darauf an und fragt sie, zu welcher Sorte ihrer Meinung nach die eigene Kampagne zählt, antworten alle (!), dass sie selbstverständlich zu den seltenen 20 Prozent gehören, die wirken. 100 Prozent aller Werber glauben also felsenfest, dass sie zu den „Guten“ gehören. Das ist an Selbstbetrug kaum zu überbieten.
Nun weiß man, dass die Werber zur bewundernswerten Spezies von Menschen zählen, die extrem selbstbewusst und selbstsicher durch ihr Berufsleben wandeln. Kreative, Grafiker, Texter, Konzeptioner, insbesondere die Digital-Helden sind beneidenswert: Reflexion und Selbstkritik sind den meisten von ihnen fast gänzlich unbekannt.
Hass auf Werbung
Die Wirklichkeit ist dagegen erschreckend. Die Verbraucher hassen nicht nur die Werber, sie hassen auch ihr Produkt: Die Reklame. Sie tun alles, um der Werbung zu entgehen. Und Online-Werbung nervt am meisten. Nach einer Umfrage der Werbewirkungsforscher von IMAS bezeichnen die Nutzer Online-Werbung als „nutzlos, langweilig, nervig“. Sie stellen der digitalen Werbung ein geradezu katastrophales Zeugnis aus.
Wie also aus diesem Dilemma herauskommen? Wären sie ehrlich, müssten sich das derzeit 80 Prozent aller Werber fragen. Online und das Tracking und Stalking der Verbraucher sind nicht die Lösung. Die von der EU-Kommission auf den Weg gebrachte E-Privacy-Verordnung wird dem ein Ende bereiten. Nach Schätzungen von Experten wird dies der Online-Werbung einen empfindlichen Dämpfer verpassen und die Branche 30 Prozent und mehr der Umsätze kosten.
Perfide und betrügerisch
Nachdem Meldungen um den Betrug mit Online-Werbung („Ad Fraud“) seit Jahren die Werbegazetten füllen, haben Betrüger nun eine neue Methode entwickelt, um Werbungtreibenden „noch perfider Geld aus der Tasche zu ziehen“. Sie greifen auf die Smartphones von realen Nutzern zu und täuschen einen Werbeklick und die Installation einer App vor. Das Branchenmagazin „W&V“ schreibt: „Nachdem für Werbung, die zur Installation einer App führt, etwa zwei bis fünf Euro gezahlt werden, ist das ein immens lukrativer Betrug.“
Auch der Buzz um Influencer Marketing wird das Problem nicht lösen
Der Buzz um Influencer Marketing wird das Problem auf Dauer ebenso wenig lösen. Die "New York Times" enthüllte eine neue Eskalationsstufe des Betrugs mit gefakten Followerzahlen. Die Firma Devumi verspricht demnach Reichweite auf sozialen Netzwerken und soll Sportlern, Politikern und Schauspielern über 200 Millionen Follower vermittelt haben. Die neuen Fans sollen jedoch keine menschlichen User, sondern Bots sein.
Ein Experiment des WDR entlarvte kürzlich die Fake-Influencer-Welt bei Instagram. Zwei Reporter versuchten, Fake-Influencer bei Instagram zu werden. Ihr Ziel: Möglichst viele Follower und möglichst viele Werbeaufträge. Mithilfe von Bots trieben sie ihre Followerzahlen in die Höhe. Am Ende standen ihrem Einsatz von 200 Euro Werbeangebote im Wert von über 2900 Euro gegenüber.
Wer auf Instagram nicht auf solche Betrügereien hereinfällt, droht sich zumindest der Lächerlichkeit preiszugeben. Über die aktuelle Milka-Kampagne lästert „Neon“ „Wenn man beim Scrollen im Instagram-Feed plötzlich… kichern muss, dann ist mit großer Wahrscheinlichkeit mal wieder eine teure und sorgfältig durchdachte Social-Media-Kampagne so richtig schön schief gegangen.“ Für die plumpe, wenig authentische Inszenierung der Kampagne hagelt es Kritik. Milka muss sich den Vergleich zu Coral gefallen lassen, das mit seinen deplatzierten Waschmittel-Flaschen („Die peinlichste Kampagne des Jahres“) viel Häme auf sich zog.
Früher war nicht alles schlecht
Um Lösungen zu finden, muss man offenbar die digitale Welt kurz verlassen und wieder auf alte Modelle setzen. Eine der größten Mediaagenturgruppen der Welt, GroupM, macht einen ersten, vorsichtigen Rückzieher. Ihr Chairman Irwin Gotlieb verkündete in einem Interview mit AdExchanger: “I believe strongly in a marketing funnel, and that broad targeting will continue to remain an essential part of marketing. If I focus my effort on picking the lowest hanging fruit and stop watering the tree, the tree would die. That’s what happens when brands over-target.” Er warnt davor, Targeting zu übertrieben und betont die Wichtigkeit einer breitenwirksamen Ansprache der Verbraucher.
Für Mediaagenturen, die ein Jahrzehnt lang fast ausschließlich auf digitale Medien fokussierten und enorme Summen in die automatisierte Auslieferung digitaler Werbung („Programmatic“) investierten, ist dies eine peinlich späte aber wichtige Erkenntnis. Die Bedeutung der herkömmlichen Medien und der Mix von Werbe-Kanälen wird zudem von einer aktuellen Studie der Marktforscher von Kantar Millward Brown bestätigt.
Die Lösung ist einfach - und uralt
Die Kantar-Forscher untersuchten über 200 Kampagnen und kamen zum Ergebnis, dass integrierte Multichannel-Kampagnen die Effektivität um 57 Prozent steigern. Aber auch, dass 54 Prozent aller Kampagnen diese Anforderungen nicht erfüllten. Dass ein Media-Mix die Wirkung steigert, ist allerdings nicht neu, sondern gehört zu den wenigen, fundamentalen Erkenntnissen der Werbewirkungsforschung der letzten 40 Jahre.
Angesichts dieser Ergebnisse mutet es befremdlich an, dass gleichzeitig 89 Prozent aller Marketingverantwortlichen ihre Kampagnen sehr wohl als integriert betrachten. Da ist er wieder: Der Widerspruch zwischen Selbstwahrnehmung und Wirklichkeit. Jeder Werber, der einfach nur seine Hausaufgaben macht, statt jedem digitalen Buzz hinterherzurennen, steigert seine Chance auf Einlass in den elitären 20-Prozent-Club der Werbung, die erfolgreich ist. So einfach ist das.