Werner Knallhart
xblx, Regionalbahn der Deutschen Bahn im Hauptbahnhof Frankfurt, emwir Frankfurt am Main *** xblx, regional train of the Deutsche Bahn in Frankfurt central station, emwir Frankfurt am Main Quelle: imago images

Das größte Service-Problem der Deutschen Bahn ist Angst!

Wer ist schuld? Wie lautet die Vorschrift? Spontane, kulante Entscheidungen zugunsten von uns Fahrgästen fallen vielen Mitarbeitenden der Deutschen Bahn noch immer schwer. Häufig aus Angst vor negativen Konsequenzen.

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Wenn man als Kunde den Verstand abschalten muss, um die Reise genießen zu können, ist das immer schon ein schlechtes Zeichen. Da wollte ich mich auf einer ICE-Fahrt im Sitzbereich des aus unerfindlichen Gründen geschlossenen Bordrestaurants niederlassen, einfach um den Corona-Abstand zu den anderen Reisenden zu meinen und deren Gunsten zu erhöhen, und bekam von der unbeschäftigten Restaurant-Mitarbeiterin zu hören, dass dies nicht erlaubt sei, denn wenn das Restaurant geschlossen sei, dann könne sie ja auch nicht die für das Restaurant geltenden Hygiene-Voschriften einhalten (Tisch abwischen etc.).

Dass mein Sitzplatz im geschlossenen Restaurant aber ja in der Realität nichts anderes war, als ein unbewirtschafteter Platz in einem der Großraum-Sesselwagen, und dass dort die Tische ja schließlich auch nicht regelmäßig vom Personal gereinigt und desinfiziert würden, ließ sie als Einwand nicht gelten. Sie sei für die Einhaltung der Regeln im Restaurant zuständig gewesen und wenn eine Kontrolle gekommen wäre, wäre sie „ihren Job los“ gewesen.

Selbst mein hilfloser Hinweis, dass immer auch nach dem Sinn einer Vorschrift gefragt werden müsse, drang nicht durch. Einzig Ausschlag gebend für die junge Berufseinsteigerin („Habe ich so im Seminar gelernt“) war: Kriege ich Ärger von oben oder nicht? Und wenn dadurch das Infektionsrisiko unter den Fahrgästen durch geringere Abstände erst recht steigt: So what? Kopf abschalten und durch.

Immer wieder höre ich von Mitarbeitenden an Bord: Darf ich nicht, ist verboten, muss so und so, wenn das rauskommt, bin ich dran, Vorschrift ist Vorschrift. Das zieht sich durch den ganzen Reiseablauf:

- Ein Zugchef sagte mir vor einiger Zeit im Türbereich kurz vor dem Aussteigen: „Wenn Sie rennen, dann kriegen Sie Ihren Anschlusszug noch. Der hat zwei Minuten Verspätung. Ich darf das bloß nicht offiziell in der Durchsage mitteilen, denn wenn dann jemand stürzt, bin ich schuld.“

- Bei über 160 Minuten Verspätung kommt die Durchsage: „Ab jetzt gibt es für alle ein alkoholfreies Getränk kostenlos im Bordbistro.“ Ein Gast, der ein alkoholfreies Bier bestellt, bekommt als Antwort: „Das zählt nicht, das ist Bier.“ - „Aber es ist doch alkoholfrei.“ - „Trotzdem. Tut mir leid. Das darf ich nicht rausgeben.“ Obwohl kurz zuvor das Bordpersonal noch darüber beraten hatte, sogar die Sandwiches und Schokoriegel zu verschenken, wurde jetzt alkoholfreies Bier unter „Alkoholisches“ einsortiert und ausgeklammert. Aus Angst vor der eigenen Vernunft.
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- Ein Doppel-ICE kommt einteilig. Eine Frau mit einer Reservierung in der 2. Klasse des ausgefallenen Zugteils findet keinen Sitzplatz und muss stehen. Sie fragt den Zugbegleiter: „Könnte ich mich denn in die 1. Klasse setzen? Ich habe ja in der 2. Klasse reserviert und nun ist der Sitzplatz gar nicht dabei.“ Antwort: „Nein, das darf ich nicht. Aber Sie bekommen das Geld für die Reservierung im Reisezentrum wieder zurück.“ Mehrere Stunden stehen und dann noch ins Reisezentrum für ein paar Zerquetschte. Weil der Zugbegleiter sich auf die Vorschriften zurückzieht.

Fragt man die Verantwortlichen in den Führungsetagen in Frankfurt und Berlin, bestätigen die immer wieder: „Das Personal an Bord darf kulant sein.“

Andererseits erzählen sie sich auf allen Ebenen bis hin zu den Teams „in der Fläche“ (also nicht nur in den Verwaltungshochhäusern, sondern auch in den Zügen): Dort, wo die Kontrolle lax ist, kommt es zum Schlendrian. Etwa bei der Beladung der ICE-Bordküchen in den frühen Morgenstunden in den Depots. Eine ICE-Restaurant-Chefin erzählte mir jüngst an Bord: „Manchmal kommen wir hier zu Dienstbeginn rein und müssen erstmal die Spuren der Party beseitigen, die die Belader hier in der Küche gefeiert haben. Mit leergetrunkenen Bierflaschen und Verpackungsmüll von weggegessenen Sandwiches.“


Selbst wenn das ein Mythos sein sollte (was ich nicht glaube): Man traut es einander zu. Was nicht mit Brief und Siegel quittiert wird, ist an Bord nicht sicher.

Kulanz dankt mir nur der Kunde, Pedantismus dankt mir der Konzern

Insofern ist das DB-Management in einer Zwickmühle: Wie die Teams an Bord im Zaum halten, ohne sie zu drangsalieren? Und auch wenn es sich mehr Gelassenheit an Bord wünscht, das Personal an Bord lebt in der Gewissheit und deshalb nach der Devise:

Im Zweifel strikt nach Vorschrift. Kulanz dankt mir nur der Kunde, Pedantismus dankt mir der Konzern.

Im Moment scheint das Pendel der Bordpersonalführung zumindest subjektiv zur Angstmacherei hin ausgeschlagen zu sein. Diese Mentalität sitzt offenbar tief in der DNA der Deutschen Bahn verwurzelt. Gut informierte Bahnexperten berichten: Komme es bei skandinavischen Bahnunternehmen zu einem Fehler, fragt man dort: „Wie können wir die Prozesse so verbessern, dass der Fehler nicht mehr vorkommt?“
Bei der Deutschen Bahn frage man: „Wer war das?“

Selbst von höchster Ebene der Gewerkschaft GDL kommt unter vier Augen Kritik an der DB-Bord-Mentalität: „Gerade im Bereich der Gastronomie herrscht ein übertriebenes Regime der strikten Vorschriften. Obwohl es dort doch im Wesentlichen ums Wohlgefühl der Gäste geht, nicht um Sicherheit während der Fahrt wie in der Lok.“

Vor meinen Augen haben die Mitarbeiter einmal den gesamten Inhalt des Kühlschranks in den Müll geworfen, weil wegen eines Stromausfalls die Kühlung eine Minute zu lange (ich meine, es waren 21 Minuten) ausgefallen war. Selbst verschenken durften sie das gute Essen nicht, obwohl so ein Sandwich - mit an den Platz genommen - dort noch stundenlang ungekühlt hätte gelagert werden können. Und obwohl etliche Kunden vor Frust regelrecht Tränen in den Augen hatten (mich eingeschlossen) - ausschlaggebend war die Angst: Was, wenn ein Gast nun Durchfall bekommt? Nach einer Minute zu lange im geschlossenen Kühlschrank? Bitte!
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Kopf hinhalten für die eigene Entscheidung statt aufgefangen zu werden von oben - dieser Druck, schuld zu sein, lässt die Teams an Bord die Sicherheit in der Vorschrift suchen.
Und genau dort, wo sie freie Bahn haben, zeigen die Kolleginnen und Kollegen an Bord, was für nahbare, mitfühlende Mitmenschen sie sind: Wenn sie fröhliche, humorvolle Durchsagen zu Wetter, Essen und Ankunftsstädten machen, sich mit den Gästen an Bord verschwistern, sobald die überbordende Verspätung allen gemeinsam den Abend versaut, wenn sie Schokolade verteilen und Getränke selbst in der 2. Klasse verkaufen, obwohl sie es nicht müssten (weil es Laune und Umsatz steigert).

Aktuelles Beispiel: Wer unter den Fahrgästen in den vergangenen Wochen dabei mitgeholfen hat, zwischen Ukrainerinnen und Zugpersonal mit einer Übersetzung auf Russisch oder Ukrainisch zu helfen, bekam ein heißes Getränk aufs Haus. „Ja, klar. Das entscheide ich einfach.“ Weil es schlicht undenkbar wäre, in Zeiten des gemeinsamen Improvisierens dafür einen auf den Deckel zu bekommen.

Was wohl alles möglich wäre, wenn das Klima der Angst vor Konsequenzen verwandelt würde in die Freiheit der eigenen Entscheidungen im Sinne der Gäste. Mit einem breiten Rücken, freigehalten von den Konzernlenker*innen in ihren Büros.

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Der Sitzplatz in der 1. Klasse bei verlorener Reservierung, das kostenlose alkoholfreie Bier statt der Cola: All das kostet die Bahn nicht einen müden Cent. Es zu verwehren, führt jedoch zum legendären ICE-Kopfschütteln: „Typisch Deutsche Bahn!“ Und das haben die Menschen an Bord nicht verdient. Auf beiden Seiten!

Unser Kolumnist Marcus Werner schreibt über die alltäglichen Nebensächlichkeiten in der Wirtschaft, die es wert sind, liebevoll aufgeblasen zu werden. Den Autor erreichen Sie auch über LinkedIn.

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