Werner knallhart

Die weihnachtliche Sitzplatz-Panik im ICE

Weihnachten. Das Fest der Liebe. Oh, halt die Klappe! Für Bahnfahrer ist es das Fest der Magengeschwüre. Auf der Heimfahrt an Weihnachten kollidiert die deutsche Lust am Durchregeln mit dem Zwang zum Improvisieren. Weil die Bahn es so will. Eine Kolumne.

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So vertreiben sich Pendler die Zeit
Gut gerüstet96 Prozent der Befragten verfügen über ein Smartphone. 42 Prozent der befragten Pendler besitzen zusätzlich ein Tablet. Nur vier Prozent der Pendler sind ausschließlich mit einem Tablet ausgestattet. Quelle: dpa
Das Tablet versüßt lange FahrtenWer ein Tablet hat, zieht dies am liebsten auf langen Zugfahrten aus der Tasche (85 Prozent). Auf kürzeren Strecken im öffentlichen Nahverkehr kommen die Geräte nur bei 45 Prozent zum Einsatz. Für den Blick aufs Smartphone hingegen scheint immer Zeit zu sein. Auf kurzen Strecken im öffentlichen Nahverkehr gucken 90 Prozent mindestens einmal auf ihr Smartphone, 87 Prozent tun dies auch auf längeren Zugfahrten. Quelle: Fotolia
Kurz und gutNicht jeder liest Romane auf den smarten Geräten. Viele Pendler gucken während der Fahrt weniger als eine Minute auf den Bildschirm - meist um nachzusehen, ob sie einen Anruf oder eine E-Mail erhalten haben (87 Prozent). Mitunter dient dem Pendler das smarte Telefon auch als Uhrenersatz (79 Prozent), um schnell die Wetterlage (57 Prozent) zu erfahren oder soziale Netzwerke zu überprüfen (58 Prozent). Quelle: dpa
Apps schlagen Mobile-BrowserOb Nachrichten lesen oder in sozialen Netzwerken surfen – meist wird dazu nicht der Browser, sondern die passende App genutzt: 63 Prozent der Befragten nutzen häufig Apps, 33 Prozent gelegentlich. Bei den 18- bis 35-Jährigen sind es sogar 76 Prozent, die Apps häufig nutzen. Quelle: dpa
Pendler lieben soziale NetzwerkeMit 83 Prozent führt Facebook die Rangliste der am häufigsten genutzten Apps an. Es folgen YouTube, WhatsApp, Amazon und Google Maps. Ebenfalls in den Top-Ten vertreten: Anwendungen, die Onlinebanking auf dem Smartphone ermöglichen (von 49 Prozent genutzt), die Apps der örtlichen Verkehrsverbünde (45 Prozent) und Wikipedia (35 Prozent). Quelle: dpa
Morgens Nachrichten lesenAuf dem Weg zur Arbeit wollen sich Pendler schnell auf den neuesten Stand bringen. Morgens werden deshalb am häufigsten Apps genutzt, die Pendler mit aktuellen Nachrichten versorgen. Auch Bücher werden dann gern gelesen: iBooks oder Kindle nutzen 15 Prozent der Befragten auf dem Weg zur Arbeit. Quelle: dpa
Abends mit Freunden verabredenNach getaner Arbeit rücken Freunde und Familie auf den Radar. WhatsApp (67 Prozent) und Facebook nutzen Pendler abends häufiger. Zur Entspannung werden allerdings auch Musik Apps oder YouTube gerne geöffnet. Quelle: dpa

Coming home for Christmas: Kurz vor Weihnachten türmen sich in den ICEs mal wieder Heimfahrer und ihre Weihnachtsgeschenke bis zur Decke. Überforderte Bahn-Laien und Vielfahrer-Besserwisser kämpfen um die Plätze. Weil die Bahn es so will.

Im Flugzeug ist alles exakt vorgeschrieben. Wie man einsteigt, wo welches Gepäck hinkommt, wann man aufstehen darf und dass beim Essen die Rückenlehnen hochgeklappt werden. An Bord eines ICE ist man noch frei. Da herrscht im Vergleich noch Anarchie. Leider ist das nicht für jeden was. Die Regelungslücken sind regelrecht Gift für die Stimmung an Bord. Denn zur Weihnachtszeit treffen im Zug Welten aufeinander.

Die nostalgische Bahnwelt der Gelegenheitsfahrer knallt auf die straffe ICE-Logistik der Vielfahrer. Und die Bahn lässt es zu. 

Beispiel 1: "Wir sind nur kurz im Restaurant." 

Das ist Bahnidylle aus Dampflokzeiten. Schön die Mäntel auf den Plätzen im Großraumwagen verteilen ("Wir sind gleich wieder da.") und dann ab ins Bordrestaurant, um dort die nächsten Plätze zu belegen. Leute, die heutzutage so etwas tun, die sagen zum Bordrestaurant noch Speisewagen und Bundesbahn. Seltenfahrer.

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Vor einiger Zeit musste ich erleben, wie nach der Durchsage "in Hannover nehmen wir Fahrgäste eines ausgefallenen ICE auf" erstmal ein Senior aus dem Restaurant an seinen Platz im Großraum gestürzt kam und Taschen und Koffer auf seinem Platz und dem seiner Freunde verteilte, dass bloß keiner der vielen Zugestiegenen auf die Idee käme, sich auf die freien Plätze zu setzen.

Die Bahn wird den Teufel tun zu sagen "jeder Fahrgast nur ein Platz". Denn wer sich nicht traut, ins Bordrestaurant zu gehen, weil sonst sein Platz im Großraum weg sein könnte, der konsumiert weniger. Sollen das doch die Fahrgäste unter sich ausdiskutieren.

Vielfahrer hingegen wissen, wie es geht: Man setzt sich direkt ins Restaurant, schiebt dort seine Koffer kreuz und quer unter die Haxen der Mitreisenden, trinkt dann in vier Stunden einen Kaffee und surft im kostenlosen WLAN der 1. Klasse, das stets bis ins Restaurant ausstrahlt.

Beispiel 2: "Das ist mein Platz" - "Steht da aber nicht."

Stellen Sie sich vor, Sie leben in Berlin. Aber Weihnachten feiern Sie mit der Familie im Schwarzwald. Das bedeutet eine 5-Stunden-Bahnreise!

Zum Glück startet der ICE seine lange Reise in Berlin Hbf. Wenn Sie schnell reinkommen, ist der Zug leer und Sie können sich einen nicht reservierten Platz aussuchen. Doch dann das! Über allen Plätzen steht: "GEGEBENENFALLS RESERVIERT".

Mit anderen Worten: Die Bahn hat die Einspielung der Reservierungen nicht hinbekommen. Volles Risiko für Sie! Die Reise nach Jerusalem auf der Reise nach Karlsruhe. Alle setzen sich auf gut Glück auf einen beliebigen Platz und in Berlin-Spandau funktionieren die Reservierungsanzeigen plötzlich, dann sieht man über sich entweder nichts (Bingo!) oder Texte wie Berlin-Frankfurt (Verdammt!).

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Und nun springen alle Reservierungslosen auf und stürzen sich auf die freien Plätze. Wenn es überhaupt welche gibt. Solche Aktionen verkürzen die Lebenserwartung. Dabei geht es noch schlimmer: Die Anzeigen bleiben dauerhaft außer Betrieb und plötzlich steht kurz hinter Hannover eine alte Dame im nass geregneten Pelz vor Ihnen und mault: "Sie sitzen auf meinem Platz."

Und Sie wissen ganz genau: Um Sie herum hatten die anderen einfach nur Glück. Und Sie werden jetzt stundenlang stehen und jedes Mal, wenn jemand sich bewegt, werden auch Sie zucken in der Hoffnung, der andere werde aussteigen. Aber dann holt der sich nur eine halb verfaulte Banane aus der Tasche über sich. Und Sie können Ihre verplemperten Glückshormone wieder aus der Blutbahn filtern.

Entschädigung durch die Bahn: zero. Denn Sie hatten ja nicht reserviert. Denn die Bahn nimmt mit den Reservierungen 120 Millionen Euro pro Jahr ein. Mit Nichtreservierern keinen einzigen zusätzlichen Cent.

Die technische Panne der Bahn geht deshalb voll auf die Kappe der Nichtreservierer. Eine Reservierung ist so betrachtet also eine DB-Murks-Versicherung. Nur so als Tipp. 

Beispiel 3: "Haben Sie BahnComfort-Status?" - "Jaja."

Der BahnComfort-Status ist in Stoßzeiten die Lizenz zum Töten in Gedanken. Denn ob jemand diesen Vielfahrer-Status hat oder nicht, das sieht man dem Fahrgast nicht an. Das steht nur auf der BahnCard. Und so setzen sich (zu Recht) Fahrgäste ohne diesen Status auf die für BahnComfort-Vielfahrer reservierte Plätze. Wieso auch nicht, wenn keiner mit BahnComfort kommt und da sitzen will? ABER! Hinterhältige Lügner behaupten auf Nachfrage von ehrenwerten Vielfahrern "Haben Sie BahnComfort?" oftmals abgebrüht, dreist, verschlagen und wahrheitswidrig "jaja".

Die größten Pannen der Deutschen Bahn
Juli 2015Wegen der großen Hitze sind die Luftkühlungen mehrerer IC-Züge ausgefallen. Anders als im Sommer 2010 reagierte die Bahn diesmal schnell: Sie stellte für die besonders betroffene Linie Berlin-Amsterdam zwei Ersatzzüge bereit. Sie sollen eingesetzt werden, wenn die Luftkühlung in anderen IC auf der Strecke versagt, wie ein Sprecher mitteilte. Außerdem wurden in Osnabrück mehrere Busse stationiert. Dort mussten insgesamt mehrere Hundert Fahrgäste in nachfolgende Züge umsteigen, weil in ihren Zügen die Klimaanlage ausgefallen war. Es habe aber kein Fahrgast gesundheitliche Probleme bekommen, so der Sprecher. Bei etwa einem Dutzend älterer Intercitys auf der Linie Berlin-Amsterdam hatten die Klimaanlagen ihre Arbeit eingestellt. Quelle: dpa
Oktober 2014Ein Warnhinweis sorgt für Lacher, Spott und eine Entschuldigung der Deutschen Bahn: „Cannstatter Wasen: Es ist mit Verspätungen, überfüllten Zügen und verhaltensgestörten Personen zu rechnen“ ist am Samstag auf den Anzeigetafeln an mehreren Bahnhöfen in der Region Stuttgart zu lesen gewesen, wo das Volksfest an seinem letzten Wochenende in diesem Jahr wieder Tausende Besucher anlockte. „Wir entschuldigen uns dafür“, sagte eine Bahn-Sprecherin am Sonntag und bestätigte Online-Berichte der „Stuttgarter Nachrichten“ und der „Stuttgarter Zeitung“. Ein Mitarbeiter habe den Text entgegen aller Vorgaben verfasst. Er werde Anfang der Woche zum Rapport bestellt. Dann solle auch der gesamte Vorgang aufgeklärt werden. Quelle: dpa
August 2013Ein ungewöhnlich hoher Krankenstand in der Urlaubszeit sorgte im August 2013 für ein Fahrplanchaos am Mainzer Hauptbahnhof - und für massiven Ärger bei den Fahrgästen. Die Deutsche Bahn hat für das Chaos am Mainzer Hauptbahnhof wegen massiver Personalprobleme auf Facebook um Entschuldigung gebeten. „Für die derzeitigen Einschränkungen möchte ich mich entschuldigen“, antwortete ein Mitarbeiter in dem Sozialen Netzwerk auf Beschwerden einer Nutzerin. Die Situation sei „wahrlich nicht schön“. Quelle: dpa
August 2013Um dem Problem der häufig verstopften und verdreckten Zugtoiletten Herr zu werden, setzt die Bahn ab sofort neue Reinigungskräfte, sogenannte Unterwegsreiniger, in ICE-Zügen ein. Die Reinigungskolonne, die auf der Fahrt die Toiletten putzt, wird um 50 Beschäftigte auf 250 aufgestockt, wie der Vorstandsvorsitzende DB Fernverkehr, Berthold Huber, ankündigte. Die Mitarbeiter sollen zugleich stärker entsprechend der Zugauslastung eingesetzt werden. Damit würden die Toiletten in besonders gefragten Bahnen mindestens zweimal und damit doppelt so oft auf der Fahrt gereinigt wie bisher. Der Fahrgastverband Pro Bahn und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) lobten die Initiative, wiesen aber zugleich auf andere Probleme hin. „Neben den kaputten oder dreckigen Toiletten gibt es tagtägliche Kundenbeschwerden vor allem über die Klimaanlagen und Verspätungen“, sagte Pro-Bahn-Bundessprecher Gerd Aschoff. Und das sind nicht die einzigen Pannen der Deutschen Bahn... Quelle: dpa
November 2011Nach der persönlichen Anmeldung im neuen elektronischen Ticketsystem „Touch & Travel“ waren für nachfolgende Nutzer die Kundendaten sichtbar. Quelle: dpa
Juli 2010Am einem Wochenende fallen in mehreren ICE-Zügen die Klimaanlagen aus. Fahrgäste kollabierten, Schüler mussten dehydriert ins Krankenhaus eingeliefert werden. Im Zuge der Panne wurde bekannt, dass die Klimaanlagen der Bahn nur bis 32 Grad funktionieren. Damals fielen in Dutzenden Zügen die Klimaanlagen aus. Quelle: dpa
April 2010 - ICE verliert TürBei voller Fahrt verliert ein ICE auf dem Weg von Amsterdam nach Basel eine Tür. Das Stahlteil schlägt in einen entgegenkommenden ICE ein. Auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Frankfurt und Köln werden sechs Menschen leicht verletzt. Ursache für den Unfall ist eine lose Stellmutter an der Verriegelung. Foto: dpa

Und weil der echte Vielfahrer ja nicht die BahnCard aus Beweis heraus verlangen kann, muss er jede noch so unverhohlene Lüge hinnehmen - selbst von frech grinsenden 15-jährigen Rackern auf ihrer ersten Reise allein.

Oder man muss wie ein idiotischer Spitzel hinter dem Schaffner herlaufen und die Bahncards über dessen Schulter mit kontrollieren.

Anders geht es kaum. Denn Schaffner weigern sich in überfüllten Zügen nicht selten, extra auf Nachfrage den Status diverser Fahrgäste zu kontrollieren. "Keine Zeit."

Ausgebuffte Vielfahrer mit BahnComfort haben sich deshalb mittlerweile eine Menschenkenntnis antrainiert wie Bundespolizisten bei der stichprobenhaften Ausweiskontrolle. Sie achten an Weihnachten verbissen auf Reisende, die eine fremde Sprache sprechen, auf Menschen, die unter Koffern mit Flugetiketten sitzen und auf Seniorengruppen mit Piccolöchen auf dem Tisch. Denn diese Leute sind mit großer Wahrscheinlichkeit Seltenfahrer, wollen nur unter den Weihnachtsbaum, sind also weniger hemmungslos und können die Auswirkungen einer Lüge auf die Frage "Haben Sie BahnComfort?" in der Eile nicht ausreichend abwägen. Für die kaltblütigen Vielfahrer sind das leichte Opfer: "Bahn what? I don't understand." Und weg.

Ach, ich weiß nicht. Vielleicht reserviere ich ja dieses Jahr. Und werfe was auf den riesigen Haufen mit den 120 Millionen Euro. Oder ich riskiere es und nehme mein Weihnachts-Notgepäck mit: Schwimmflügel und eine gute Flasche Rotwein mit Schraubverschluss. Wenn mir alle Sitzplätze entgleiten, dann puste ich die Schwimmflügel im Zug auf, setze mich im Bereich vor den Toiletten darauf, stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren und dann prost. Alles besser als bei Glatteis im Autobahn-Stau an den Kasseler Bergen.

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