
Einige Atheisten sagen ja so flapsig: Der ärgste Feind der Religion ist das Gehirn. Man könnte auch sagen: Wer sieht, wie viele Menschen auch ohne Religion wunderbar durchs Leben kommen, macht sich schnell mal seine Gedanken.
Insofern verhält es sich mit der Religion unter einem Aspekt exakt genauso wie mit teurem Mineralwasser im Restaurant. Weil wir Deutschen seit Jahrzehnten bei unseren europäischen Partnern erleben, dass man im Restaurant ohne Gemurre wie selbstverständlich Leitungswasser serviert bekommt, sitzen uns die sechs Euro für eine Flasche Markenwasser lange nicht mehr so locker.
Schließlich bekommt man in Frankreich meist ungefragt Wasser aus dem Hahn zum Menü dazugestellt. Und in Großbritannien ist der Betreiber der Gaststätte sogar verpflichtet, zum Alkohol kostenlos Wasser anzubieten, selbst wenn man nichts isst. Der Gesundheit des Gastes zuliebe. Verdünnt schlagen die Spirituosen nicht so auf den nüchternen Magen.
Als gute Europäer solidarisieren wir uns da gerne und fangen auch damit an:
Gast: "Und dann hätte ich gerne noch ein Glas Wasser."
Kellner: "Mja, gerne. Wir haben da San Pele..."
Gast: "Ach, nö. Einfach aus der Leitung ist wunderbar. Danke."
Hohoho, wie wird der Kellner auf diesen Wunsch nun wohl reagieren? Wir sind hier schließlich in Deutschland.





Nun ja, so ist es mir einst tatsächlich wieder bei der Bestellung eines Abendessens zu zweit in Berlin passiert:
Ich: "Einfach aus der Leitung ist wunderbar. Danke."
Kellnerin: "Oh, das machen wir aber nicht".
Ich legte kurz meine Strategie zurecht: devot-beschämter Rückzug oder die höfliche aber bestimmte Kunde-ist-König-Replik. Ich wählte B:
"Hmm, das ist aber schade. Wir haben gerade Vorspeisen und Hauptgänge bestellt, trinken einen Aperitif und haben uns schon eine Flasche Wein ausgesucht."
"Leute, sorry, aber das machen wir nicht."
(Zur Erinnerung: Es ging nicht um die Herausgabe des Aktivierungscodes für das Atombomben-Arsenal, sondern um zwei Gläser Leitungswasser im Wert von zusammen 0,2 Cent.)
Diese Regeln gelten bei einem Geschäftsessen
Wenn der Aperitif vor dem Essen gereicht wird, sollte das Glas nicht zum Tisch mitgenommen werden; das erledigen Kellner. Eingedeckte Gläser werden von rechts nach links, Besteck von außen nach innen verwendet. Gläser werden nur bis zum ersten Drittel eingeschenkt und nur am Stiel angefasst, falls sie einen haben.
Es wird nicht getrunken, bevor der Gastgeber dazu aufgefordert hat. „Guten Appetit“ wird kaum noch gewünscht. Kommt das vom Gastgeber und Koch, riecht es nach Eigenlob; wünscht es der Gast, könnte man meinen, es sei nötig. Wünschen Sie lieber einen netten Abend und gute Gespräche. Und angestoßen wird nur mit weinhaltigen Getränken, zunicken und zuprosten ist aber dezenter. Cheers!
Einmal aufgenommenes Besteck berührt die Tischdecke nicht wieder, bei Pausen wird es auf dem Teller geparkt.
Erlaubt ist, jederzeit zum Büfett zu gehen, um einen weiteren Gang zu holen. Tabu ist hingegen, den Teller bis zum Anschlag vollzupacken. Speisen nie am Büfett verzehren oder probieren! Und nie mit gebrauchtem Geschirr zurück ans Büfett (Ausnahme: privat).
Das Brot vor dem Essen ist keine Vorspeise, sondern eine Beilage zur Vorspeise. Es wird nur gebrochen, nie wie eine Stulle mit Butter bestrichen und gegessen! Richtig: Brot in Happen brechen, jedes Stück einzeln bestreichen und essen.
Heiße Getränke, die in Tassen nach dem Essen gereicht werden, dürfen erst serviert werden, wenn alle Besteckteile (Messer, Gabel, Teller) abgeräumt sind.
Artischocken, Austern, Canapés, Garnelen, Muscheln, Spareribs, Wachteln dürfen mit den Fingern gegessen werden. Ebenso Geflügel – aber nur, wenn es nicht anders geht.
Sie stoßen ein Weinglas um und bekleckern den Nachbarn: alles kein Desaster! Bitten Sie den Kellner diskret heran. Er beseitigt die Spuren. Den Nachbarn bitten Sie um Entschuldigung und bieten an, für etwaige Reinigungskosten aufzukommen. Sind nur Sie betroffen, ziehen Sie sich diskret auf die Toilette zurück.
Gastgeber mit Stil fragen: Was halten Sie von einem Menü? Wollen wir eine Vorspeise nehmen? Möchten Sie Wein dazu trinken? Anschließend passt er sich den Wünschen der Gäste an und lässt ihnen bei der Bestellung den Vortritt. Er bezahlt auch nicht am Tisch, sondern am Empfang.
Wird ausgebreitet und einmal gefaltet auf den Schoß gelegt. Fällt sie beim Essen runter, bitten Sie das Personal um eine neue. Nicht aufheben! Wer aufstehen muss, legt die Serviette locker links neben den Teller (amerikanisch: auf den Stuhl). Der Gastgeber deutet mit derselben Geste an, dass das Essen beendet ist.
Niemals bei Tisch! Make-up auffrischen, Lippenstift nachziehen, Augen nachtuschen – dazu zieht sich die Dame stets zurück.
Einzig richtig: nicht pusten, nicht mit dem Brot tunken, den Löffel nur mit der Spitze zum Mund führen. Cremesuppen und Suppen mit Einlagen werden nur ausgelöffelt, klare Brühen dürfen auch ausgetrunken werden.
Selten war ich mir mit meiner Begleitung so einig:
"Gut, dann bezahlen wir jetzt die Aperitifs und gehen."
Die Gastgeber und wir: Es harmonierte einfach nicht. Wegen 0,2 Cent.
"Haben Sie noch eine Serviette für mich? Meine ist mir runtergefallen."
"Könnten Sie uns noch eine Kerze bringen? Die vor uns ist ausgebrannt."
"Sie haben nicht zufällig ein paar Zahnstocher da?"
All diese Extrawünsche wären selbstverständlich kostenlos erfüllt worden. Obwohl sie mindestens so hohe Extra-Kosten verursacht hätten. Eine Kerze kostet gut und gerne 50 Cent und damit das 2500-fache vom Wasser. Doch wegen der Bitte um das verdammte Wasser ließ sich der Gastro-Profi dazu hinreißen, die Kunden zu düpieren.
Aber hat er vielleicht sogar recht? War nicht er der Geizhals, sondern wir?