Autofahren war auch schon vor der Krise unfassbar teuer. Ein Freund von mir hat ausgerechnet: Seine Pendelei zur Arbeit von 40 Kilometern pro Strecke mit einem geleasten Kleinwagen kostet ihn rund 8000 Euro im Jahr. Für das Geld bekäme er eine BahnCard 100 für die 1. Klasse und könnte bundesweit komfortabel (auch in den meisten Nahverkehrsbereichen) reisen, in den DB-Lounges kostenlos essen und trinken und mit der kostenlosen Kreditkarte Punkte sammeln und gegen Prämien eintauschen – etwa Mitfahrergutscheine.
Aber er arbeitet außerhalb einer Kleinstadt auf der grünen Wiese. Und für die Strecke, die er mit dem Auto in vierzig Minuten schafft, braucht er mit Stadtbahn, Regionalexpress und Bus (zwei Mal umsteigen und eine Viertelstunde laufen) knapp zwei Stunden. Und wenn es Richtung Feierabend auch nur zehn Minuten später wird, bricht seine ganze Mobilitätskette zusammen und er kommt gar nicht mehr weg.
Damit sind wir schon beim ersten Knackpunkt der von der Politik in Bund und Ländern geplanten ÖPNV-Aktion für drei Monate (wann immer die kommt): Auf dem Land haben viele gar nichts davon. Es fährt halt nichts. Da bleibt einem zum Freuen nur die höhere Pendlerpauschale.
Es gibt aber noch einen anderen Knackpunkt. Auch wenn ich erst überrascht war über das Ergebnis einer aktuellen Mobilitätsstudie des Sozialforschungsinstituts SINUS aus diesem Frühjahr zur Frage, wer in Deutschland mit öffentlichen Verkehrsmitteln fährt – eigentlich ist es logisch: Mit Bus und Bahn fahren nicht per se die sozial Schwachen, sondern Leute mit einem bestimmten Blick auf die Welt. Es zählt der Lebensstil, nicht allein der Kontostand: Es fahren vor allem junge Menschen und gut ausgebildete Leute. Öffentlich zu fahren sei vor allem eine Frage des Status und der Grundeinstellung zum Leben, so Franziska Jurczok von SINUS im Deutschlandfunk.
Das Beeindruckende daran ist: Obwohl die Monatskarte für Bus und Bahn deutlich günstiger ist (zwischen 70 und 110 Euro) als der Unterhalt und Betrieb eines Autos (zwischen 350 und 1500 Euro), fahren ausgerechnet vor allem die mit den Öffis, die sich das Auto eher leisten könnten.
Der Grund laut SINUS lässt sich an der Gesellschaftsgruppe der Expeditiven festmachen. Man nennt sie auch Hipster. Das sind die, die gerne vorausgehen, und von denen viele gerne viel unterwegs sind und für die ihre Mobilität zu ihrem Image gehört: schnell sein, schlau (weil billig) unterwegs sein und etwas für das Klima tun. Die umweltbewusste Avantgarde, wie SINUS sagt.
Und jetzt wird’s heikel: Was, wenn die junge Avantgarde irgendwann mehr Geld verdient? Steigt sie dann auf das Elektroauto um, weil Komfort plötzlich genauso wichtig wird wie Klimaschutz? Der mit regenerativem Strom geladene ID.4 von VW bietet beides. Reicht das dann der Avantgarde?





Genau das ist Knackpunkt Nummer 2: Billiger und umweltfreundlich zu sein, wird nicht reichen, um den ÖPNV für möglichst viele zum Goldstandard der Mobilität zu machen. Es gibt in Großstädten zum Beispiel Milieus, in denen sich die Leute eher ihr Bein absägen würden, als ihren AMG-Mercedes zu verscheuern und sich dafür ein Monatsticket zu ziehen. Weil deren ganzer Stolz, ihr geliebter Freiheitsluxus immer noch das zur Schau gestellte (und leider oft auch mehrfach um den Block zur Schau gefahrene) Auto ist und für die ein Fahrrad, der Bus und die U-Bahn ein Armutszeugnis sind. Wofür die junge mobile Avantgarde wiederum nur ein Fremdschamlächeln übrig hat. Zwei parallele Gesellschaften, die sich gegenseitig wohl mit Mitleid begegnen.
Wie machen die Verkehrsunternehmen also all die Leute, für die die Nutzung von Bus und Bahn ein Zeichen von Verzweiflung sind, zu überzeugten Monatskarteninhabern?
Ich glaube: Es muss für fast alle „genau ihr Ding“ werden. Und was bietet das Auto, was die Öffis kaum zu bieten haben? Antwort: ganz persönlich konfigurierbaren Komfort und ganz allein definierbare Flexibilität. Individualität eben.
Die Deutsche Bahn macht zumindest vor, wie es mit dem Komfort gehen kann, der gleichzeitig Prestige bedeutet: die DB-Lounges – exklusiv für Stammkunden mit BahnComfort-Status (die mit dem Fahrkarten-Mindestumsatz von 2000 Euro pro Jahr): gemütliche Sessel, kostenlos Kaffee und Apfelschorle. Und Ruhe. Die BahnCard für Vielfahrer als Schlüsselkarte in den DB-VIP-Bereich.
Es gibt Experten, die den Verkehrsbetrieben empfehlen, in U-Bahnen und S-Bahnen eine 1. Klasse einzuführen. Mit dem Blick auf die SINUS-Studie ergibt das Sinn. Weil die Öffis auf diese Weise zumindest einen persönlichen Komfort und Abgrenzungs-Prestige bieten würden, der die Expeditiven sanft behütet altern ließe.
Aber reicht das als Ersatzprestige im Tausch auch gegen die Autofahrer-Individualität?
Und ist für so etwas genug Platz an Bord der Waggons? Muss es nicht origineller gehen und vor allem eben: individueller? Ich finde, es braucht den großen VIP-Strauß, damit sich jeder „sein Ding“ herauspicken kann:
- 50 Prozent Rabatt auf den Starbucks-Kaffee to go für BVG-Monatskarten-Inhaber
- früherer Eintritt auf Popkonzerte für alle, die beim Kauf der Karten die Kundennummer der Kölner Verkehrsbetriebe angegeben haben
- Expresskassen bei IKEA für Monatskarteninhaber
Hier gibt es bislang wenig Überzeugendes zur Kundenbindung mit dem gewissen Neidfaktor, das Strahlkraft hat.
Das größte individuell zugeschnittene Prestige für die ÖPNV-Kunden aber ist doch, wenn genau ihre Reise reibungslos abläuft PLUS am Ende ohne Parkplatzsuche endet. Aussteigen und fertig. Dieser unschlagbare Vorteil der Öffis wird ganz oft aufgezehrt durch fehlende Mobilitätsangebote auf den ersten und letzten Metern zwischen Haltestelle und tatsächlichem Start und Ziel. Ein kleiner Rollkoffer und schon ist das eigene Auto im Vorteil.
Warum nicht den ÖPNV mit Carsharing verzahnen (da gibt es auch Mercedes)? 30 Minuten inklusive jeden Monat. Zehn Minuten mit dem E-Roller kostenlos in jede Fahrkarte integrieren. Warum wartet gegen einen kleinen Aufpreis beim Ticketkauf über die App nicht schon automatisch ein Taxi oder ein Rufbus an der Endhaltestelle, das oder der einen dann nach Hause fährt, wenn an der U-Bahnhaltestelle kein Linienbus mehr fährt und der Fußweg länger wäre als ein Kilometer oder so? Rufbus-Projekte wie der BerlKönig in Berlin oder MeinAnton in Bielefeld kommen aus den ewigen lokal eingeschränkten Etablierungsphasen mitunter seit Jahren nicht so recht raus. Ja, all das kostet Steuergeld. Aber es ist eben Neukunden-Akquise in der Verkehrswende und der Energiewende.
Die dreimonatige ÖPNV-Offensive sollte nicht nur das konventionelle Angebot billiger machen. Die Verkehrsbetriebe könnten doch, wie als kleiner Verkehrsversuch, als PR-Offensive, aus allen Rohren schießen, um zu zeigen, wie es künftig gehen könnte – in der Stadt, im Speckgürtel und auf dem Land. Bekanntlich macht Erfahrung nicht nur klug, sondern überzeugt auch. Denn die Hipster sind zu wenig.
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