In der Sesamstraße gab es in den Achtzigerjahren eine Sketchreihe. Ich weiß gar nicht, ob die heute noch gezeigt wird. Da sitzt ein Muppet-Mann mit Kugelkopf und Schnurrbart am Tisch eines amerikanischen Diners und wird von Kellner Grobi bedient - dem liebenswert-tollpatschigen blauen Fellmonster.
In einer Folge geht es darum, dass der Gast das Schinkenbrötchen vor der Tagessuppe essen möchte. Oder doch lieber danach. Oder doch lieber davor? Nein, danach.
Als Grobi kapituliert und einfach Sandwich und Suppe zusammen serviert, bestellt der Gast alles ab und ordert erstmal einen Kaffee.
In einer anderen Folge geht es darum, dass ein Sandwich auf dem Bild der Speisekarte eine Olive und eine Gurke zeigt, das servierte aber beides nicht hat. Und als Grobi alles nachgeliefert hat ("Sie haben recht, mein Herr"), sagt der Gast: "Auf Wiedersehen", lässt die Mahlzeit stehen und geht. Denn er hat keine Zeit mehr, das Brot zu essen.
Und dieser Gast, in seiner unverfrorenen Kunde-ist-König-Manier, ruft Grobi stets mit "Herr Ober" oder auch "Kellner". Wahrscheinlich ist die Sesamstraße schuld, dass nach 1970 Geborene nicht mehr ungehemmt das Wort Ober in den Mund nehmen können. Es klingt in unseren Ohren seit der Sesamstraße einfach herablassend.
Dazu kommen die Ober-Witze von damals, die wir etwa aus den Knax-Heften hatten:
"Herr Ober, bringen Sie mir bitte einen Zahnstocher."
"Tut mir leid, mein Herr, die Zahnstocher sind im Moment alle in Gebrauch."
Oder:
"Herr Ober, warum kosten drei Spiegeleier mehr als drei Rühreier?"
"Weil man Spiegeleier nachzählen kann."
Alles mit Obern und Kellnern war für uns Kinder ein Witz. Einen eigenen geschäftlichen Umgang mit dem Personal hatten wir ja nicht - dafür war das Taschengeld zu mau.
Vielleicht ist das alles der Grund, weshalb wir heute die Servicekräfte in der Gastronomie niemals mit einem höflichen "Herr Ober" oder "Frau Kellnerin" ansprechen, sondern immer hinterher dröhnen: "Entschuldigung" oder "Hallo". Und wenn es dringend ist: "Hallo, Entschuldigung!" Und wenn das nichts bringt, ein pikiertes "Äh, hallooo?"
Die zehn Knigge-Basics
Wer niesen muss, tut dies indem er den Handrücken der linken Hand benutzt und sich wegdreht. Hat sich durch die abrupte Bewegung jemand erschreckt, entschuldigt man sich. Daneben kann man in einer kleinen Runde "Gesundheit" wünschen, wenn aber beispielsweise bei großen Besprechungen jemand niest, wird das ohne Kommentar ignoriert.
Wenn man sich am Telefon meldet genügt kein: Guten Tag oder Hallo. Man sollte zumindest den Familiennamen nennen. Außerdem empfiehlt es sich bei mehreren Personen im gleichen Alter, die in einem Haus wohnen, auch noch den Vornamen dazu zu nennen. Ein Gruß wie „Hallo“ oder „Guten Tag“ kann gerne nachgestellt werden, ist jedoch kein Muss.
Nach 21.30 Uhr sollte man nur in äußersten Notfällen bei anderen Personen anrufen. Außerdem empfiehlt es sich, bei älteren Personen auf eine Mittagsruhe zwischen 13 und 15 Uhr zu achten, in denen ebenfalls das Telefon stumm bleiben sollte.
Auch wenn es manchen als spontan und nett erscheinen mag. Unangekündigte Besuche sollte man vermeiden um den Gastgeber nicht zu einer ungelegenen Zeit zu stören, empfiehlt Knigge-Expertin Tosca Freifrau von Korff. Ein Anruf, 30-45 Minuten vorher hilft um zu klären, ob ein kurzfristiger Besuch möglich ist.
Bei offiziellen Anlässen wie Taufen, Hochzeiten oder aber auch einem feinen Abendessen ist es sinnvoll, den Gastgeber vorher nach dem Kleidungswunsch zu fragen, wenn dies nicht auf der Einladung vermerkt ist. So vermeidet man unangenehme Ausrutscher in Sachen Kleidung.
Egal, wie die Frage lautet oder wer sie stellt: Richtig antwortet man nur in ganzen Sätzen. So lautet die Antwort auf die Frage nach dem gewünschten Getränk im Flugzeug nicht „Tomatensaft“, sondern „Ich hätte gerne einen Tomatensaft.“
Schlecht über andere Personen reden empfiehlt sich generell nicht. Wer es dennoch nicht lassen kann, sollte das nur in einem ungestörten Umfeld tun, in dem keine Dritte zuhören. Das Bahnabteil oder den Bus zum Lästern nutzen ist also ein No-Go.
Wer ernste oder problematische Dinge mit anderen zu besprechen hat, sollte den passenden Zeitpunkt abwarten, auch wenn manche Dinge dringend sind. So gehört das Besprechen von Konflikten nicht auf eine Hochzeit oder eine Geburtstagsfeier.
Wer irgendwo Gast ist muss abwarten, wo ihn der Gastgeber hinführt. Eine Besichtigungstour auf eigene Faust a la „Ich schaue mich mal ein wenig um“ ist nicht akzeptabel. Stattdessen lieber gleich den Gastgeber um eine Führung bitten.
Wer Gäste hat, muss ihnen gestatten ihre Schuhe anzulassen. Hausschuhe, die schon von anderen getragen wurden sind keine Alternative. Im Extremfall kann man seine Gäste drum bitten, des Bodens zur Liebe die Schuhe auszuziehen. Allerdings sollte ein aufmerksamer Gast bei schlechtem Wetter gleich ein zweites Paar Schuhe für den Innenraum mitbringen.
Und wenn dann alle Gäste ihre Konversation unterbrechen und sich neugierig zu einem umdrehen, dann entschuldigt man sich schon wieder: "Nee, sorry, ich meinte die Kellnerin!"
Wer sich das Hallo und Sorry ersparen möchte, der ruft vielleicht auch mal "Zahlen bitte!" Aber keiner ruft "Herr Ober".
Das ist doch schade, weil so distanziert. Die Anrede "Entschuldigung" klingt, als kündige man diplomatisch die Eröffnung eines Streits an. Im Sinne von "Entschuldigung, aber das ist so zäh, das kann ich nicht essen."
Aber: "Entschuldigung! Ich würde gerne noch etwas bestellen."
Ich wüsste nicht, was ich als Kellner da antworten sollte. "Entschuldigung angenommen." Oder was?
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Kurioserweise trifft es nicht alle Berufe:
"Frau Bundeskanzlerin" - das geht als Alternative zu "Frau Merkel".
"Herr Pfarrer" kann man gut sagen.
"Frau Doktor" auch. Die Ärzte sind für die meisten ja sogar der Herr Doktor oder die Frau Doktor, selbst wenn sie niemals eine Doktorarbeit geschrieben haben. Vor einiger Zeit war ich in einer Praxis, da sprach sogar die Assistentin von "Frau Doktor" über ihre unpromovierte Chefin, die Frau Ärztin.
"Herr Pilot" dagegen? Nein! Aber egal, mit den im Cockpit verriegelten und verrammelten Piloten spricht man als Passagier ja nicht. Komplizierter ist es mit dem Kabinenpersonal. Früher wäre ja noch ein höfliches "Stewardess!" möglich gewesen. Aber wem geht schon ein "Frau Flugbegleiterin" über die Lippen? Wenn alle Stricke reißen, gibt es ja noch den Service-Knopf in der Armlehne. Bingggg!
Im ICE gibt es das nicht. Was ruft man da? "Frau Schaffnerin"? Man hat auch immer Angst, dass man die Leute mit der falschen Berufsbezeichnung kränkt. Die ändert sich ja dauernd. "Das heißt nicht mehr Schaffner. Ich bin Zugführerin!"
"Herr Polizist!" Nein. Amerikaner rufen in den Filmen immer so schön "Officer!" Uns bleibt nur "Entschuldigung." Und im Notfall: "Hilfe! Polizei!"
Ach, es ist alles unschön bei uns. Die Franzosen haben ihr Monsieur und Madame, die Spanier ihr Señor und Señora. Deswegen gibt es als Lösung für all unsere Unhöflichkeiten beim Hinterherrufen nur eine Lösung: "Mein Herr! und "Meine Dame!" So wie Grobi als Kellner seine Gäste anspricht.
Altmodisch? Noch. Denn es ist auch stilvoll. Da lässt jemand in der U-Bahn seine Mütze liegen und Sie rufen nicht mehr "Hallo, Entschuldigung!", sondern: "Mein Herr, Ihre Mütze!" Irgendwie hat das was.
Wenn ich mir anmaßen darf, etwas vorzuschlagen, meine Damen und Herren: Schluss mit den Platzhalter-Entschuldigungen. So könnte es gehen:
Keinem Menschen ruft man so viel hinterher wie denen in der Gastronomie. Hier plädiere ich für eine spezielle Lösung: Geben wir "Herr Ober/Frau Oberin" und "Herr Kellner/Frau Kellnerin" eine Chance. Damit diejenigen, die uns dabei helfen, eine gemütliche Mahlzeit einzunehmen, endlich wieder sprachlich zur Persönlichkeit werden.
Alle anderen Dienstleister bekommen "mein Herr" und "meine Dame" - fremde Privatleute sowieso. Und wenn es passt, kann man sich ja von Fall zu Fall aus der Deckung trauen. "Frau Postbotin, hier bin ich! Ich war gerade unter der Dusche."
Hallo nur noch zur Begrüßung. Und Entschuldigungen nur noch, wenn man jemanden wirklich belästigt. Und das Kellner-Ruf-Problem wäre endlich gelöst.
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