Werner knallhart
Quelle: dpa

Wir essen, saufen, rauchen uns tot – und Berlin schaut zu

Viele Deutsche kennen keine Grenzen bei Fett, Zucker, Alkohol und Tabak. Sie konsumieren sich ins Grab. Aber die Bundesregierung hält sich raus. Wie machen das bloß unsere EU-Nachbarn, die fast alle länger leben?

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Unter den Nationen in Westeuropa haben wir Deutschen die geringste Lebenserwartung. Das ist das Ergebnis einer der größten Gesundheitsstudien der Welt. Und das liegt nach Meinung der Experten an unserem lebensfeindlichen Lebensstil.
Warum leben wir Deutschen nur so ungesund? Antwort: Wir sind so frei. Oder ist es etwa schon wieder so weit in Deutschland, dass man sich noch nicht mal mehr Diabetes oder einen Schlaganfall anfuttern darf, einen Lungenkrebs herbeiquarzen, bis zum Herzinfarkt auf dem Sofa rumhängen oder die Leber mit Alkohol zerfleddern, wie man gerade lustig ist?

Wer hierzulande einen Veggie-Day in Kantinen vorschlägt, muss aufpassen, nicht als Umwelt-Nazi in Verruf zu geraten.

Ich habe das ungute Gefühl, es ist Teil der deutschen Mentalität, neue Impulse für das Alltagsleben von außen als anmaßendes Reingequatsche zu empfinden, statt als inspirierende Hilfestellung. Irgendwie so: Wir sind Individualisten. Also lasst uns.

Obwohl ich den Eindruck habe, dass dieser beleidigte Reflex viele gute neue gesellschaftliche Ansätze ausbremst, ertappe ich mich selber dabei, wie ich Reglementierungen von außen instinktiv ablehne: Eine Apple Watch, die mir sagt, dass es wieder Zeit ist, vom Schreibtisch aufzustehen, um ein paar Schritte zu gehen, empfinde ich je nach Stresslevel manchmal auch als Gängelung, obwohl ich ja alles selber so am Gerät eingestellt habe. Ich glaube, da bin ich typisch deutsch. Amerikaner sind für solche Anweisungs-Gimmicks offener.

Meine Schwester lebt in Dänemark. Sie liebt das Land, sagt aber: Wenn in Dänemark zu Weihnachten die jährlich neue Edition von Weihnachtsdeko eines großen dänischen Glasherstellers auf den Markt kommt, dann gehört es fast zur Staatsraison, die zu kaufen. Als sie das mal als eine Art Konsumgleichschaltung kritisiert hatte, blickte sie in lauter entgeisterte Gesichter. Motto: Gefällt es dir nicht bei uns? Man zieht dort im Norden lieber mit. Wer als Individualist ausschert, muss sich in Skandinavien eher als bei uns die Frage gefallen lassen: Warum willst du nicht dazu gehören?

Dazu kommt das skandinavische Urvertrauen in den eigenen Staat. Er hat den Menschen da oben ja auch lange nichts Böses mehr getan. Deshalb kann man in Schweden ganz leicht das Bargeld abschaffen. Angst vor der Macht der Banken, die mit dem Staat unter einer Decke stecken: Nö!

Nun, das sieht bei uns Deutschen bekanntlich alles ganz anders aus. Aber jetzt wird es fies: Denn diese Skepsis gegenüber dem eigenen Staat gepaart mit der Haltung „Ich bin ich“ können Politiker hierzulande herrlich einfach für sich nutzen, wenn sie feige sind und untätig bleiben wollen. Es kommt mir vor, wie eine der gängigsten Lügen der aktuellen deutschen Politik, wenn ich höre, warum es keine konsequente Lebensmittelpolitik zugunsten einer gesunden Ernährung geben soll: „Wir wollen die Bürger nicht bevormunden.“

Denn dieser als liberal angestrichene Spruch suggeriert, dass die Politik den Bürgern zutraut, selber zu beurteilen, was richtig und falsch für sie ist. Aber Vorsicht: Hören Sie diesen Spruch, dann wissen Sie: Da hat mal wieder irgendeine mächtige Lobby Druck auf die Parteien ausgeübt. Sonst würden die so nicht frech heucheln.

Denn letztendlich ist all das, was Politik macht, Bevormundung. Wer seinen Wählern nichts vorschreiben will, darf kein einziges Gesetz erlassen. Denn dies regelt über unsere Köpfe hinweg, wie wir leben sollen. Und das ist okay, denn in unserer repräsentativen Demokratie haben wir die Politiker ja dazu gewählt. Und solche Gesetze gibt es nicht nur, wenn es darum geht, gesellschaftliches Zusammenleben zu regeln (bei rot halten, bei grün fahren), sondern auch dort, wo es vorrangig um das Wohl des Einzelnen geht.

Anschnallen im Auto: gesetzlich vorgeschrieben.
Schulpflicht: gesetzlich geregelt.
Verschreibungspflicht bei vielen Medikamenten: genau in Vorschriften festgehalten.
Zuckerzusatz in Babynahrung: Julia Klöckner will das verbieten. Die Ernährungsministerin, sie lebt! Und tut was. Aber warum so zaghaft?

Es stimmt eben nicht, dass wir alles alleine besser im Griff haben, als der von uns beauftragte Gesetzgeber in Absprache mit Experten. Weder als Eltern für unseren Nachwuchs, noch als Erwachsene für uns selbst.

Nun sagen namhafte Wissenschaftler: Wir Deutschen sind zu dick. Der Anteil adipöser, also fettsüchtiger Leute hierzulande liegt mit 16,9 Prozent deutlich über dem Wert etwa von Italien mit 10,7 Prozent. Weil die Italiener gesünder essen: Fisch, Gemüse und Olivenöl, statt Schwein, Kartoffeln und Butter. In Norwegen liegt die Quote bei 13,3 Prozent. Die Differenz scheint klein, aber das sind eben drei Fettleibige pro einhundert Leuten weniger als bei uns. Weil es dort mehr Präventions-Programme gibt.

Warum tut sich bei uns so wenig? Warum lässt uns die Bundesregierung mit unserer zuckrigen, fetten und versalzenen Ernährung, viel zu viel Alkohol (hier sind wir europaweit leider vorne mit dabei) und dem vielen Rauchen machen, was wir wollen, statt uns an die Hand zu nehmen und uns, ja: unserer eignen Lebenserwartung zuliebe in die Schranken zu weisen? Warum nur ein bisschen an Babynahrung rumdoktern? Wo die Politik doch sonst alles kleinteilig regelt.

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