Wirecard, Vapiano, Esprit, Galeria Karstadt Kaufhof Das waren die spektakulärsten Insolvenzen des Jahres 2020

Die Zahl der Firmenpleiten in Deutschland ist auf den niedrigsten Stand seit mehr als 25 Jahren gesunken. Gegen den Trend stieg die Zahl der Großverfahren aber an.  Quelle: imago images

Die Kriminal-Pleite von Wirecard ist ein Fall für die Geschichtsbücher. Aber auch andere prominente Firmen mussten 2020 den Gang zum Insolvenzgericht antreten. Die wichtigsten Unternehmenshavarien im Überblick.

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Die große Pleitewelle scheint verschoben: Im Corona-Jahr sank die Zahl der Unternehmensinsolvenzen insgesamt deutlich – dank staatlicher Hilfsmilliarden und Ausnahmen bei der Pflicht zur Insolvenzanmeldung. „Die Insolvenzen haben sich vom realen Wirtschaftsgeschehen deutlich abgekoppelt“, bilanziert Tillmann Peeters, Geschäftsführer der Sanierungsberatung Falkensteg. Allerdings trügt die Statistik auch, so Peeters. Denn in ihr würden Kleinst- und Kleinunternehmen dominieren, die rund 65 Prozent der Insolvenzen ausmachen. „Hier werden überwiegend Fremdanträge durch Sozialversicherungsträger und das Finanzamt gestellt“. Die seien zwischen März und Juni gar nicht und danach nur zögerlich erfolgt. Wären die Insolvenzanträge gestellt worden, wären die Insolvenzzahlen zumindest auf Vorjahresniveau, vermutet Peeters und verweist auf die Zunahme von Großpleiten im Jahr 2020. 

Denn während die Insolvenzzahlen in Summe einbrachen, stiegen diese bei Großunternehmen. Mehr als 250 insolvente Firmen mit einem Umsatz über 10 Millionen Euro haben die Falkensteg-Experten für 2020 ausgemacht, 37 Prozent mehr als im Vorjahr. Darunter mit Wirecard erstmals auch ein Dax-Konzern. Aber auch jenseits von Wirecard mussten zahlreiche prominente Unternehmen den Gang zum Insolvenzgericht antreten. 

Auffällig waren etwa eine Reihe von Insolvenzen im Einzelhandel, insbesondere im Textil- und Modebereich. Die mit Abstand größte Einzelinsolvenz der letzten Jahre betraf Galeria Karstadt Kaufhof (GKK) mit Sitz in Essen. Der Warenhauskonzern beschäftigte rund 28.000 Mitarbeiter und war erst im vergangenen Jahr durch den Zusammenschluss von Karstadt und Kaufhof entstanden. Die Pandemie gab dem ohnehin angeschlagenen Konzern den Rest. Anfang April 2020 stellte GKK einen Antrag auf ein Schutzschirm-Insolvenzverfahren. Warenhäuser wurden geschlossen, Tausende Mitarbeiter entlassen. Doch das Unternehmen konnte gerettet werden: Gläubiger wie Lieferanten und Vermieter stimmten zu, auf rund zwei Milliarden Euro zu verzichten. Allerdings bedroht nun der Weihnachtslockdown mit der erneuten Schließung der Läden die Wiederauferstehung von GKK. Das Geschäft um die Feiertage sei „für alle innerstädtischen Händler von existenzieller Bedeutung“, sagte jüngst ein Unternehmenssprecher. Ohne wirtschaftlichen Ausgleich hätte dies für viele Händler „fatale Folgen“.

Schon der erste Lockdown im Frühjahr hat die Filialisten hart getroffen. Der Modehändler Esprit, die Luxusmarke Escada, die Sinn GmbH aus Hagen, die Tom-Tailor-Tochter Bonita, der Gerry-Weber-Ableger Hallhuber und die Muttergesellschaft der deutschen Pimkie-Filialen meldeten 2020 Insolvenz an. Auch den Schuhhersteller Peter Kaiser und Appelrath Cüpper erwischte es, ebenso die deutschen Ableger des Servicedienstleisters Mister Minit und des Modehändlers Gina Tricot. Gegen Jahresende beantragte dann der Weihnachtsschmuckanbieter Käthe Wohlfahrt eine Schutzschirm-Insolvenz. 

Überhaupt erlebte die auf Sanierung ausgerichtete Insolvenzvariante im Jahr 2020 einen regelrechten Boom. So nutzte etwa die Recyclex-Gruppe, ein Spezialist für das Recycling von Blei und Zink, Schutzschirmverfahren für mehrere deutsche Töchter.  Auch die Klier Hair Group, mit rund 8.500 Mitarbeitern Deutschlands größte Friseurkette, setzte auf ein Schutzschirmverfahren, um sich neu aufzustellen.

Krise all'arrabbiata bei Vapiano

Mit teils noch stärkeren Beschränkungen als im Handel sahen sich Restaurants, Cafés, Clubs und Hotels konfrontiert. Das traf vor allem Unternehmen, die schon vor Corona mit Problemen kämpften. Darunter die Steakhauskette Maredo und die Italo-Restaurantkette Vapiano. Für Letztere gelang im Sommer trotz aller Widrigkeiten eine Rettung des Kerngeschäfts. Ein ehemaliger Vapiano-Manager übernahm gemeinsam mit Gastro-erfahrenen Partnern wesentliche Teile des Unternehmens aus der Insolvenz.

Auch für Dat Backhus ging die Insolvenz letztlich glimpflich aus. Die Hamburger Bäckereikette mit knapp 100 Filialen und zwei Produktionsstandorten war ebenfalls durch Corona in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Ihr Umsatz brach ein – auch, weil der Gastronomiebereich zeitweise schließen musste. Anfang Dezember übernahm schließlich die Unternehmerfamilie Hastor über eine Beteiligungsgesellschaft Dat Backhus. Mit ihrer Prevent-Gruppe waren die Hastors bislang vor allem im Automotive-Bereich engagiert. Krisenstimmung herrschte 2020 allerdings auch dort. 

Im April musste die Veritas AG aus Gelnhausen, ein Automobilzulieferer, Insolvenz anmelden. Der Konzern, der noch in Familienbesitz ist, hat weltweit rund ein Dutzend Standorte und beschäftigt in Deutschland rund 1.600 Mitarbeiter. Im Automobilbereich tätig sind auch die KSM Castings Group und der Glasspezialist Flabeg. Die Technologiefirma Nanogate, die Oberflächen aus Kunststoff und Metall für die Autoindustrie produziert, nutzte ebenfalls ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung, um das Unternehmen wieder auf Kurs zu bringen. Zu den größten Verfahren 2020 zählte zudem die Insolvenz des Autohändlers Auto Wichert in Hamburg und der Reifenhandelsgruppe Fintyre

Selbst vermeintliche Boomthemen wie die Elektromobilität schützen indes nicht vor Rückschlägen, wie das Aachener Start-up e.Go Mobile erfahren musste. Immerhin fand das Unternehmen im Rahmen seiner Schutzschirm-Insolvenz einen neuen Investor und kann weitermachen. Auch die Insolvenz des Gebäudedienstleisters Clemens Kleine mit Sitz in Düsseldorf ist für die rund 5.500 Beschäftigte der Gruppe zu einem glücklichen Ende gekommen. Nach dem Insolvenzantrag im Dezember 2019 wurde das Familienunternehmen im Sommer 2020 von der Stölting Facility Service aus Leipzig übernommen, das damit zu einem der größten Dienstleistungsunternehmen aufsteigt. Beim Dentalhändler Pluradent stieg mit der Deutschen Mittelstandsholding ebenfalls ein neuer Eigentümer ein und beendete die Insolvenzphase. Der Küchenhersteller Poggenpohl ging an einen chinesischen Produzenten von Sanitäramaturen.

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Auch der drastische Einbruch des Luftverkehrs hinterließ Spuren in der Insolvenzstatistik. Der Bodendienstleister Wisag Ground Service Tegel (WGST), der am Berliner Flughafen Tegel aktiv war, suchte Rettung in einem Schutzschirmverfahren. Der Dienstleister Arwe Group aus München, der unter anderem an Flughäfen für Autovermieter tätig ist, steuerte ebenfalls durch ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung. Während die Lufthansa und die großen Touristiker wie TUI mit staatlichen Milliardenhilfen am Leben erhalten wurden, flogen die Luftfahrtgesellschaft Walter und die Fluglinie Sundair ins Verfahren. Mit ähnlichem Gegenwind hatten Werften und Reedereien zu kämpfen. So versuchte sich Investor Lars Windhorst zum zweiten Mal als Retter der Flensburger Werft FSG. Bei der Zeamarine-Reederei zog derweil der Bremer Bau- und Immobilienunternehmer Kurt Zech die Reißleine.

Deutlich mehr Beachtung fand in Bremen allerdings der Insolvenzkrimi um die German Property Group, die bei ausländischen Investoren Hunderte Millionen Euro eingeworben hat. Ein Großteil des Geldes ist bei dem mutmaßlichen Immobilienanlagebetrug verschwunden. Auch die Verlagerung des Firmensitzes nach Bremen kurz vor der Insolvenz wirft Fragen auf. Für ähnliche Schlagzeilen sorgte die Pleite des Düsseldorfer Abrechnungsdienstleisters für Apotheken AvP. Rund 4.000 Gläubiger haben im Zusammenhang mit der AvP-Insolvenz Forderungen von 600 Millionen Euro angemeldet. Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ermittelt mittlerweile unter anderem gegen zwei hochrangige ehemalige Manager. 

Die größte Kriminalpleite des Jahres – wenn nicht einer ganzen  Dekade – legte indes der Zahlungsdienstleister Wirecard hin. Ende Juni beantragte das 1999 gegründete Unternehmen die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung. Vorausgegangen war ein Bilanzskandal. Der damalige Dax-Konzern konnte fast zwei Milliarden Euro an angeblichem Bankguthaben nicht nachweisen. Die Geschäftsführung wurde wegen Marktmanipulation festgenommen und ein Bundestagsuntersuchungsausschuss eingerichtet. Wirecard, so viel scheint sicher, wird auch 2021 weiter für Schlagzeilen sorgen.

Mehr zum Thema: Auf welche Gefahren muss sich ein Chef vorbereiten? Risikoforscher Werner Gleißner über sein Leitbild vom „robusten Unternehmen“ und Analysedefizite bei der Krisenabwehr.  

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