Zugunglück bei Garmisch-Partenkirchen „Die Deutsche Bahn ist zu gestrig“

Drama vor der Zugspitze: Drei Tage nach dem Zugunglück von Garmisch-Partenkirchen gehen die Aufräumarbeiten weiter. Quelle: dpa

Nach dem Zugunglück bei Garmisch-Partenkirchen geht die Ursachenforschung weiter. Markus Hecht, Professor für Eisenbahntechnik an der TU Berlin, hält defekte Schienen für die wahrscheinlichste Ursache – und kritisiert die Deutsche Bahn für eine Kultur der Angst. 

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WirtschaftsWoche: Professor Hecht, beim Zugunglück in Garmisch-Partenkirchen sind drei Waggons eines Regionalexpresses der Deutschen Bahn aus der Spur gesprungen. Die Unfallursache ist noch ungeklärt. Haben Sie einen Verdacht, woran das gelegen haben könnte?
Markus Hecht: Es kommt eigentlich nur eine Gleisverwerfung als Ursache in Frage. Die tritt nicht am führenden Fahrzeug auf und nur die ist in der Lage, Personen so zu beschleunigen, dass sie durch die Fenster geschleudert werden. Ein Radbruch oder Schienenbruch sind unwahrscheinlich. 

Was bedeutet Gleisverwerfung?
Bei einer Gleisverwerfung verformen sich die Schienen wie ein S. Ein darüberfahrender Zug wird dann nach links und rechts geschüttelt. Je nach Geschwindigkeit, Drehgestellabstand und Höhe des Zuges drücken dann enorme Kräfte auf die Fahrzeuge. Die Gleise verformen sich oft erst in dem Moment, wenn ein Zug über die Gleise fährt. Deshalb bleibt das Führungsfahrzeug auf der Schiene stehen.

Was verursacht eine Gleisverwerfung?
Die Ursache für eine Verwerfung ist zum Beispiel ein Instandhaltungsfehler am Gleis. Meist werden Schienen bei zu tiefer Temperatur zusammengeschweißt. Stahl will sich bei Kälte zusammenziehen und bei Hitze ausdehnen. Im verschweißten Gleis geht das aber gar nicht. Stattdessen bauen sich im Winter Zugspannungen und im Sommer Druckspannungen auf. Deshalb dürfen Schienen nur bei einer mittleren Temperatur von circa 20 Grad Celsius geschweißt werden. Im Winter werden die Schienen deshalb extra dafür aufgeheizt. Zudem müssen die Schwellen sehr sorgfältig im Schotter gestopft werden, dass sie ohne sich stark zu bewegen alle Kräfte der Schienen übertragen können. Findet die Schienenschweißung bei falscher, zu tiefer Temperatur statt, erhalten die Schienen bei hohen Temperaturen zu hohe Druckspannungen. Das kann dann zu Gleisverwerfungen führen, bei denen sich die Schienen schlagartig durch die S-line lokal verlängern und damit entspannen, wenn ein Zug drüberfährt. Ein Doppelstockwagen ist aufgrund seines hohen Gewichtes und seiner Achsanordnung besonders anfällig für Gleisverwerfungen.

Die Deutsche Bahn feiert sich für den Aufbruch in eine neue Ära. Dabei erdulden die Fahrgäste derzeit unterirdische Leistungen. Die Kritik wächst – auch an Bahnchef Richard Lutz. Vielen ist er zu zurückhaltend.
von Christian Schlesiger

Warum?
Der Doppelstockwagen ist wegen seines langen Abstandes zwischen den Drehgestellmitten von 20 Metern und einem Achsabstand von 2,5 Metern ein besserer Verwerfungserzeuger als andere Fahrzeuge, das heißt, die Fahrzeugbauart des DB-Doppelstockwagens begünstigt diese Unfallform. Der Doppelstockwagen ist schwerer als andere Wagen und kann durch geometrische Resonanz mehr Anregungsamplitude erzeugen als zum Beispiel Elektrotriebwagen.

Defekte am Fahrzeug halten Sie als Unfallursache für unwahrscheinlich?
Das muss man überprüfen. Es könnte sein, dass die Fahrzeuge, die eine relativ starre Achsführung aufweisen, mit falsch eingestellten Drehgestellen unterwegs waren. Dann besitzen die Fahrzeuge eine schlechtere Bogenlaufeigenschaft. Wenn die Fahrzeuge dann schnell in die Kurven fahren, kann das einen zusätzlichen Druck aufs Gleis ausüben. Defekte am Fahrzeug können die Unfälle aber allenfalls begünstigen, nicht veranlassen. Stark ungünstige Bedingungen an der Infrastruktur müssen dazu kommen.

Wie sicher ist der Zugverkehr generell in Deutschland?
Es passiert recht wenig für das Chaos, das wir auf dem Schienennetz haben. Wir wissen aus Erfahrung, dass die menschliche Unzuverlässigkeit die Hauptursache für Unfälle auf dem Schienennetz ist. Aus Erfahrung und Studien wissen wir, dass ein Mensch unter optimalen Bedingungen bei jeder tausendsten Handlung einen Fehler macht. Deshalb gibt es Zugsicherungstechnik. Doch die wird immer mal wieder überbrückt, zum Beispiel wegen einer Signalstörung. Und dabei passieren dann menschliche Fehler.



Was sind die Achillesfersen des Eisenbahnsystems?
Deutschland leistet sich völlig veraltete und uneinheitliche Signaltechnik. Wenn die ausfällt, muss sie der Lokführer oder ein Mensch in der Leitstelle manuell überbrücken. Dann wird auf Befehl gefahren. Es gibt nur manuelle Kommunikation. Die Unfallwahrscheinlichkeit steigt dann stark an.  

Wie könnte man solche Probleme verhindern?
Deutschland braucht eine moderne Zugsicherungstechnik. Im Prinzip hat sich ganz Europa darauf verständigt. Das European Train Control System, kurz ETCS, führt zu kürzeren Abständen zwischen zwei hintereinanderfahrenden Zügen, würde mehr Kapazität ins Netz bringen und wäre trotzdem sicherer. ETCS kann man nicht manuell überbrücken. Menschliche Fehler werden reduziert. Aber die Einführung von ETCS in Deutschland kommt kaum voran. Die Schnellfahrtstrecke zwischen Berlin und München funktioniert mit ETCS. Das ist eine der wenigen Ausnahmen.

Nach dem Unfall in Garmisch-Partenkirchen soll nun gegen drei Mitarbeiter ermittelt werden – angeblich den Lokführer, den Streckenverantwortlichen und den Fahrdienstleiter. Halten Sie das Vorgehen für richtig?
Es ist typisch, dass in Deutschland gleich nach den Leuten gesucht wird, die für Unfälle verantwortlich sein sollen. Man sucht den Verantwortlichen auf der untersten Ebene. So entsteht eine Kultur der Angst. 

Was sollte stattdessen passieren?
Behörden und Deutsche Bahn sollten sich auf die Prozesse konzentrieren, die zu Fehlern führen, nicht auf die Menschen. Ein Beispiel: 2019 verursachte ein Güterzug von DB Cargo in Dänemark auf dem Weg nach Kopenhagen einen Unfall mit einem Personenzug, nachdem wegen Starkwind ein Lastwagenanhänger vom Güterzug geflogen ist. Die deutsche Seite wollte unbedingt den Verantwortlichen auf unterster Ebene ermitteln, also den Wagenprüfer, der die Fracht auf dem Güterzug nicht ausreichend befestigt hat. Der dänischen Seite war das egal, den Behörden vor Ort ging es um die strukturelle Verantwortung. Nicht wer hat den Unfall verursacht, sondern warum konnte es dazu kommen! In Dänemark geht es also um das Motto: Der Prozess ist die Ursache.

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Die Deutsche Bahn hält sich mit Äußerungen zurück. Halten Sie die Kommunikation für akzeptabel?
Nein. Die Deutsche Bahn ist zu gestrig, zu rückständig und zu intransparent. Man darf natürlich keine Vorverurteilungen machen, aber es muss jetzt darum gehen, zu hinterfragen, welche Prozesse Unfälle verursachen können. Dass man jetzt drei Mitarbeiter ins Visier nimmt und persönliche Verantwortliche sucht, ist ein Skandal.

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