Zwei Lokführer über den Bahnstreik „Weselsky fährt mit Vollgas vor die Wand“

Signale vor dem Bahnhof Berlin Ostkreuz leuchten am frühen Montagmorgen rot. Die GDL dehnte in den Morgenstunden ihren Streik auf die Personenbeförderungen aus. Quelle: dpa

Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) bestreikt seit dem frühen Montagmorgen auch den Personenverkehr. Ein GDL-Mitglied verteidigt den Arbeitskampf, sein Kollege von der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) kritisiert ihn. Die unabhängig voneinander geführten Interviews geben Einblick in die zerrissene Seele der Bahnbelegschaft.

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Thomas Jasper ist Lokomotivführer aus Leidenschaft. Er fährt seit vielen Jahren für seinen Arbeitgeber DB Cargo Güterzüge durch Deutschland und ist überzeugtes Mitglied der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Nun legt er seine Arbeit nieder - für mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen und eine höhere Betriebsrente. Gewerkschaftsboss Claus Weselsky hält er für aufrichtig, die Forderungen für mehr als gerechtfertigt. Die Fragen der WirtschaftsWoche beantwortet er schriftlich. 

Auch Daniel Schmitz ist Lokomotivführer aus Leidenschaft. Er fährt seit vielen Jahren für seinen Arbeitgeber DB Fernverkehr ICE-Züge durch Deutschland und ist überzeugtes Mitglied der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Schmitz, der seinen echten Namen nicht nennen möchte, war mal GDL-Mitglied, vor einigen Jahren trat er in die EVG ein. Nun kritisiert er den Streik seiner Kollegen. Gewerkschaftsboss Weselsky von der GDL hält er für autokratisch, das Betriebsklima für unterirdisch. Die WirtschaftsWoche hat ihn telefonisch erreicht und fasst seine Aussagen zusammen.

WirtschaftsWoche: Herr Jasper, Sie sind GDL-Mitglied. Warum streiken Sie?
Thomas Jasper: Wir sind frustriert. Ich muss bei der Gelegenheit auch nochmal darauf hinweisen, dass nicht nur Lokführer frustriert sind. Gleiches gilt auch für viele Zugbegleiter und andere Mitglieder von Berufsgruppen, die zum Teil schon länger von der GDL vertreten werden. Ich denke, das ist wichtig zu erwähnen, da in der Öffentlichkeit immer noch viel zu oft von 'den Lokführern' im Zusammenhang mit der GDL gesprochen wird. Inzwischen wird nämlich deutlich, dass die GDL nicht irgendeine kleine Splittergruppe von Lokführern ist, die – wie gern dargestellt wird – nur ihre egoistischen Partikular-Interessen durchsetzen will. Im Übrigen bekam die EVG seit 2008 die von den GDL-Mitgliedern erkämpften Erfolge im Nachgang ebenfalls zugestanden.



Muss es gleich ein Streik sein - hätte es nicht auch eine Verhandlungslösung getan?
Thomas Jasper: Im Oktober 2020 hat die DB AG ein Schlichtungsverfahren mit der GDL für den 'Sanierungstarifvertrag' eingeleitet, seit Ende der Friedenspflicht am 28. Februar 2021 gab es vier reguläre Tarifverhandlungen und mehrere Sondierungen. Das alles gehört zur selben Tarifrunde. Inzwischen haben wir August 2021 und letztlich ist es in zehn Monaten nicht gelungen, eine Lösung am Verhandlungstisch zu erreichen. Ich denke, da bleiben einer Gewerkschaft nicht mehr viele Optionen, um den Arbeitgeber zu einem besseren Angebot zu bewegen. Die GDL ist der DB AG bereits schon mit reduzierten Forderungen entgegengekommen und Verhandlungen sind nun mal keine Einbahnstraße. Die GDL hat deshalb die Tarifverhandlungen für gescheitert erklärt. Um diese wieder aufzunehmen, müsste der Arbeitgeber die Umstände ändern, die zum Scheitern der Tarifverhandlungen geführt hatten.

Was ärgert Sie persönlich am meisten? 
Thomas Jasper: Mich ärgert, dass die Eisenbahner an der Basis offensichtlich nicht ernst genommen werden. Das betrifft zum einen, dass man speziell die GDL als Tarifpartner nicht wirklich anzuerkennen scheint. Die Betonung liegt hier auf 'Partner'. Und ganz allgemein muss man sich mal vergegenwärtigen, was in den letzten zwölf Monaten passiert ist: Im September 2020 hat die EVG einen Sanierungstarifvertrag mit der DB AG abgeschlossen, um durch Einsparungen beim direkten Personal den von der Bundesregierung für die Staatshilfen geforderten Sanierungsbeitrag zu erbringen. Gleiches hat die DB AG ja auch von der GDL verlangt beziehungsweise verfolgt dieses Ziel mit ihren derzeitigen 'Angeboten' unverändert. Im April 2021 wurde dann in den Medien darüber berichtet, dass 3500 Führungskräfte 220 Millionen Euro so genannten variablen Vergütungen (Boni) ausgezahlt bekommen. Außerdem wurde zum Ende des Jahres 2020 die vielzitierte Betriebsrente für die Eisenbahner gekündigt, mit dem Effekt, dass künftig die dafür notwendigen Rücklagen eingespart werden. Das bedeutet eine Kürzung dieser Betriebsrente für die Eisenbahner. (...) Regelrecht veralbert kommt man sich da vor!

Herr Schmitz, Sie sind vor einigen Jahren von der GDL zur EVG übergelaufen. Können Sie die Forderungen der GDL im aktuellen Bahnstreik nachvollziehen?
Daniel Schmitz: Es ist das gute Recht der GDL, zu streiken. Sie ist inzwischen abgerückt von einigen Lohnforderungen. Statt 4,8 Prozent fordert sie jetzt nur noch 3,2 Prozent. Wenn es nur um höhere Löhne ginge, hätte ich mit den Forderungen keine Probleme. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es geht der GDL in Wahrheit um etwas anderes. Wenn man den Eisberg umdreht, sieht man die Gefahr, die unter der Oberfläche lauert. Die GDL will die Deutsche Bahn zerschlagen. Sie will aus einem Konzern mehrere Unternehmen machen und auf diese Weise ihre Macht ausbauen, weil sie sich in zerschlagenen Einzelunternehmen eine größere Chance ausrechnet. 

Die EVG hat auf eine Corona-Prämie verzichtet, die die GDL fordert - und gegebenenfalls durchsetzen könnte. Die GDL hält sich für die stärkere Gewerkschaft. Hat sie nicht recht?
Daniel Schmitz: Die EVG hat sich für einen solidarischen Weg entschieden und daher akzeptiert, dass die Belegschaft einen Teil der immensen Schäden auffängt, die der Deutschen Bahn durch die Coronapandemie entstanden sind. Die EVG hat aber dadurch nicht schlechter verhandelt. Es gibt so viele Punkte, wo die EVG-Mitglieder heute besser dastehen als die Kollegen der GDL. Beispiel Überstunden. Jeder Lokomotivführer muss in der Regel 2036 Arbeitsstunden pro Jahr ableisten. Sobald ein EVG-Mitglied das Soll erreicht hat, kann er dem Arbeitgeber sagen: 'Ich habe meine Arbeitszeit abgeleistet'. Mehrarbeit läuft auf freiwilliger Basis. Ein GDL-Mitglied kann vom Arbeitgeber gezwungen werden, pro Jahr 80 Überstunden zu arbeiten, ohne dass der Betriebsrat dagegen einschreiten könnte. Unter der GDL sind die Schutzregelungen verschlechtert worden.

Was halten Sie als EVG-Mitglied von GDL-Chef Claus Weselsky, der den Streik der GDL delegiert?
Daniel Schmitz: Herr Weselsky führt die Gewerkschaft autokratisch. Was er sagt, muss gemacht werden. Aber er hat sich verzockt. Er wusste, das der Grundlagen-Tarifvertrag Ende 2020 ausläuft, der die Existenz von zwei Gewerkschaften bei der Deutschen Bahn für gleiche Berufsgruppen geregelt hat. Jetzt gilt bei der Deutschen Bahn das Tarifeinheitsgesetz, das in einem Betrieb nur einen Tarifvertrag erlaubt – und zwar jener Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern. Das ist in den allermeisten Betrieben die EVG. Mit seiner Strategie fährt Herr Weselsky mit Vollgas vor die Wand. 

Herr Jasper, was halten Sie als GDL-Mitglied von Herrn Weselsky?
Thomas Jasper: Ich halte ihn für einen aufrechten Gewerkschaftschef, der diese Bezeichnung noch verdient. Er fühlt sich den Mitgliedern seiner Gewerkschaft verpflichtet und knickt nicht sofort ein, wenn nicht alles wie gewünscht läuft. Nach Medienberichten hätte er vor vielen Jahren in den Bahnvorstand (Personalvorstand DB Regio) wechseln können. Im Gegensatz zu seiner jetzigen Aufgabe hätte er dort angenehmer ein Vielfaches mehr verdienen können. Dass er es trotz dieses Angebots lieber vorzieht, sich aktuell wieder persönlichen Anfeindungen auszusetzen, nötigt mir Respekt ab und zeigt, dass er Charakter hat.

Was sagen Ihre Lokführer-Kollegen von der EVG zum aktuellen Bahnstreik der GDL?
Thomas Jasper: In eigenen Gesprächen mit den Kollegen wurden Gewerkschaftsthemen oder der aktuelle Tarifkonflikt bestenfalls mal angerissen. Der Beruf des Lokführers bringt es mit sich, dass man kaum Gelegenheit hat, sich darüber ausführlicher zu unterhalten. Ich gehöre zu einer kleinen Einsatzstelle von DB Cargo, da sieht man die Kollegen oft nur kurz zum Dienstbeginn oder -ende. Pausen hat man bei uns sehr häufig in auswärtigen Dienststellen, wo man die Kollegen persönlich weniger kennt. Aus meiner Wahrnehmung ist das Thema EVG/GDL kaum präsent. 

Wie bewerten Sie das Betriebsklima?
Thomas Jasper: In meinem Bereich nicht anders als sonst auch, zumindest was das Verhältnis der Mitglieder von EVG und GDL betrifft. (...) Für mich ist jeder Lokführer, Rangierbegleiter, Wagenmeister und so weiter in erster Linie ein Mensch, mit dem ich bemüht bin, ein gutes kollegiales Verhältnis zu pflegen. Schließlich muss ich mit den Kollegen noch ein paar Jahre (hoffentlich gut) zusammenarbeiten und gerade im sicherheitsrelevanten Bereich ist es wichtig, dass man sich aufeinander verlassen kann. Zusätzlichen Stress wegen unterschiedlicher Gewerkschaftszugehörigkeiten will ich mir nicht zumuten und ich habe auch noch nicht mitbekommen, dass es in meinem Arbeitsumfeld irgendjemand anders sieht.

Herr Schmitz, wie bewerten Sie als EVG-Mitglied das Betriebsklima?
Daniel Schmitz: Ich arbeite seit vielen Jahren für den Fernverkehr der Deutschen Bahn und kann nur sagen, dass das Betriebsklima bei uns im Betrieb vergiftet ist – und schon seit Jahren. Es gibt Hetztiraden gegen Andersdenkende, das war auch der Grund für meinen Austritt aus der GDL und den Wechsel in die EVG. Bei uns ist die Stimmung sehr aggressiv. Jeder, der anders denkt, wird als potenzieller Feind wahrgenommen. Persönliche Postfächer werden aufgemacht, es gibt Beleidigungen, Leute werden diffamiert. Ich habe natürlich auch Freundschaften zu GDL-Mitgliedern. Aber ein paar GDL-Mitglieder sind sehr aggressiv unterwegs. Es gibt sicherlich auch vereinzelt Betriebe, wo die Stimmung besser ist.

Glauben Sie an die Existenz von zwei Gewerkschaften bei der Deutschen Bahn?
Daniel Schmitz: Wenn sich GDL, EVG und Deutsche Bahn nicht auf eine trilaterale Lösung einigen, sehe ich keine große Zukunft für die GDL. Die EVG ist deutlich größer und organisiert in fast allen Betrieben der Deutschen Bahn die Mehrheit der Mitglieder. Wenn die GDL den aktuellen Tarifstreit auch juristisch verlieren sollte, könnte sie sehr bald Geschichte sein. Ich habe von GDL-Funktionären gehört, die das selbst so sehen.

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Herr Jasper, glauben Sie als GDL-Mitglied an dauerhaft zwei Gewerkschaften für die gleiche Berufsgruppe?
Thomas Jasper: Der Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland stellt sicher, dass es mehrere Gewerkschaften für die gleiche Berufsgruppe in einem Betrieb geben kann. Bei den Wettbewerbern der DB AG in Deutschland scheint das auch seit Jahren gut zu funktionieren. Warum sollte das bei der DB AG nicht auch möglich sein?

Mehr zum Thema: Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) hat erneut zum Streik aufgerufen. Zugreisenden droht eine der größten Arbeitsniederlegungen überhaupt. Aber wie lange kann die GDL durchhalten?

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