Zwischen Stehplatz und Luxusbett Der Wahnwitz der neuen Flugzeugsitze

Mit neuen Sitzideen versuchen Fluglinien, mehr Passagiere in ihre Maschinen zu packen. Wer als Kunde der Enge entkommen will, soll eben mehr zahlen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Selbst die größten Ryanair-Hasser müssen eingestehen, dass Europas größter Billigflieger irgendwo ein Herz für Kunden hat. Zwar versetzte der Chef des irischen Flugdiscounters, Michael O’Leary, seine Kundschaft lange mit irren Ideen wie Stehplätzen, Toilettengebühren oder Aufpreisen für Übergewichtige in Angst und Schrecken. Doch dem Skyrider-Sitz erteilte das führende Großmaul der Branche eine Absage – natürlich auf die ihm eigene schlüpfrige Art. „Die Dinger sind was fürs Domina-Studio und machen impotent“, sagte O’Leary über den Sattelsitz des italienischen Herstellers Aviointeriors.

Dabei hat der Skyrider aus Sicht der Fluglinien seinen Charme. Weil die Kunden auf dem Minipolster mehr stehen als sitzen, können die Sitze deutlich enger beieinander stehen. In ein Mittelstreckenflugzeug könnte so rund ein Drittel mehr Passagiere passen. Das hätte den Airlines mehr Geld beschert beschert - und das haben sie beim Kampf gegen steigende Kosten und fallende Ticketpreise gerade dringend nötig.

Wahrscheinlich weiß O’Leary jedoch, dass er solche Schmerzsessel nicht braucht. Denn es gibt andere Versuche, mehr Reisende auf den vorhandenen Platz zu quetschen mit noch dünneren Polstern, Plätzen gegen die Flugrichtung oder die Sitze mehr oder weniger übereinander zu stapeln. Und sie bieten den Sitzhorror immerhin in einem interessanten Design. „Die Vielfalt an neuen Ideen war nie größer“, sagt James Lee, kreativer Kopf der auf die Flugbranche spezialisierten Ideenschmiede Paperclip Design aus Hongkong, die im April bei der diesjährigen Messe für Flugzeugeinrichtung in Hamburg gleich drei Preise gewann.

70 Zentimeter Beinfreiheit

Die Ideenflut geht quer durch das ganze Flugzeug und sie sorgt für wachsende Unterschiede. Bis in die siebziger Jahre waren noch alle Plätze im Flieger gleich und galten als First Class, selbst wenn sie bestenfalls dem Komfort einer heutigen Premium Economy entsprachen. Heute hingegen hat nicht nur mindestens ein Drittel aller Fluglinien bis zu vier verschiedene Bestuhlungszonen an Bord: von Econoym bis First.

Auch die Unterschiede zwischen den Airlines wachsen. Laut Übersichtsseiten wie Seatguru schwanken in der Economy Class die Sitzabstände je nach Linie zwischen 70 Zentimetern und gut einem Meter. Breit kann der Economy-Sitz zwischen 44 gut 50 Zentimeter sein.

Und selbst in der First Class, wo ein zwei-Meter-Bett lange Standard war, geht die Bandbreite von der 70 Zentimeter breiten Liege bis zum Appartement mit Schlafzimmer, Wohnraum und Bad. Letzteres haben bald Etihad und künftig wohl auch Emirates auf einem Teil ihrer Flotten im Angebot.

Die fliegende Dreiraum-Wohnung kostet dem Vernehmen nach zwar gut das Zwanzigfache eines normalen First-Class-Sitzes. Doch es sorgt auch für deutlich mehr Komfort. „So aufwändig und gut ein Schlafsessel auch sein mag, am Ende ist er immer ein Kompromiss zwischen einem Sitz und einem Bett“, erklärt Airbus-Marketing-Chef Ingo Wuggetzer. „Da ist es doch besser Schlafen und Sitzen zu trennen – und aus zwei getrennten Produkten das Beste rauszuholen.“

Top 10 Fluglinien nach der Anzahl der Passagiere weltweit

Die Vielfalt der Sitzmöglichkeiten hat am Ende nur einen Grund: Der Flieger soll so eingerichtet sein, dass ein Flug den größtmöglichen Umsatz bringt.

Bei den Billig-Linien geht es darum, möglichst viele Sitze unterzubringen, ohne die Kundschaft vollends zu verärgern oder zu gar zu verprellen. In den Nobelabteilen gilt es, durch mehr Komfort die Kunden zum Kauf der bis zu 20.000 Euro teuren Tickets zu verleiten.

Die neuen Wege der Flugzeug-Designer

In der lange tot gesagten First Class hatte die Renovierungswelle bereits Erfolg. Laut einer Studie der britischen Marktforschungsfirma OAG verkauften die Airlines im noblen Vorderteil mit gut 86 Millionen Tickets im Jahr 2014 gut ein Drittel mehr Tickets als fünf Jahre zuvor. Trotz Billigboom wuchs das Luxusfliegen fast genauso schnell wie der Flugverkehr insgesamt.

In der Holzklasse ist das Ziel, mehr Umsatz pro Quadratmeter Fläche zu machen, schwieriger zu erreichen. Zwar fallen die Kosten eines Sitzes gering aus und betragen selten mehr als 2000 Euro pro Stück. Doch viele der einfachen Verbesserungen sind bereits ausgereizt. Seit Jahren gehen die Airlines den einfachsten Weg: sie magern die Rückenlehnen ab und bringen bei gleicher Beinfreiheit mehr Reihen unter.

So ist die Lehne der Lufthansa von gut 15 Zentimetern Ende der neunziger Jahre bis heute auf deutlich unter zehn Zentimetern geschrumpft. Da gleichzeitig noch die Bordküchen verkleinert und ein paar Toiletten ausgebaut wurden, passen heute bis zu drei Reihen mehr mit 18 zahlenden Passagieren in die Maschine. Das entspricht einem Umsatzsprung von gut zehn Prozent. „Viel enger geht es nicht ohne dass sich die Leute entweder die Knie stoßen oder ihren Vorderleuten ständig in den Steiß rammen“, so ein Airliner.

Also versuchen die Designer, neue Wege zu gehen. Die meisten davon arbeiten relativ konventionell und drücken vor allem die Rückenlehne auf teilweise nur noch drei Zentimeter zusammen. Sie drucken die Sicherheitskarten auf die Lehne und machen die Fächer so eng, dass kaum mehr als die Übelkeitstüten rein passt. Doch es gibt auch mutigere Ansätze.

Skycouch

Den vorhandenen Platz besser zu nutzen, das praktiziert bereits seit gut drei Jahren Air New Zealand. Der Lufthansapartner hat einen Teil seiner Sitze zur Skycouch erweitert. Dabei können Reisende vor einer klassischen Dreierreihe ein Polster hochklappen, bis an die Vorderreihe schieben und so ein Himmelssofa machen, auf dem Eltern mit Kindern oder Paare mit angezogenen Beinen ruhen können.

Breiter Mittelsitz

Eine einfache Idee hat auch der US-Billigflieger Frontier. Weil Passagiere auf dem Mittelsitz in der Regel besonders unzufrieden waren, ist bei der sonst für besondere Strenge bekannten Linie der Zentralsessel fast drei Zentimeter breiter als die Gang- oder Fensterplätze.

Gegen die Flugrichtung

Noch nicht im Einsatz, aber besonders radikal ist die Idee des französischen Sitzriese Zodiac. Der schrumpft bei seinem Hexagon-Sessel nicht nur die Rückenlehne auf die Stärke eines Wartesessels im Busbahnhof. Er dreht auch jeden zweiten Platz in einer Reihe gegen die Flugrichtung und verzichtet komplett auf Armlehnen. Das spart nochmal zwei Zentimeter Abstand zwischen den Reihen, weil größere Passagiere schrägsitzen und ihre Beine nun unter den Platz des gegenüber sitzenden packen können.

Der Clou ist, dass parallel sitzende Passagiere mit ihren Schultern enger an einander rücken können. Damit passt in jede Reihe ein Platz mehr auf der Kurzstrecke und bei großen Langstreckenfliegern sogar zwei. Und der Kunde fühlt sich wohl, so Zodiac. Er hat zwar nun ein Gegenüber – knapp 40 Zentimeter vor der Nase. Dafür entfällt der Streit um die Armlehne.

Der Trick mit der zweistöckigen Armlehne

Doch das ist erst der Anfang. Paperclip aus Hongkong hat eine einfache und für Passagiere sicher nicht mit einem Aufpreis verbundene zweistöckige Armlehne. Statt um den Raum in der Mitte zu raufen, müssen Sitznachbarn sich nur noch einigen, wer die oberen Eben bekommt und wer die untere.

Ähnlich simpel ist die Schachbrett genannte Idee einer flexiblen Rückenlehne, die die Flugbegleiter einfach flach herunter klappen können, wenn ein Sitz leer bleibt. Das vermittelt ein Business-Class-verdächtiges deutlich großzügigeres Raumgefühl. Aber es kann der Fluglinie auch mehr Geld bringen, wenn sie einen Platz neben oder hinter einem freien umgeklappten Sitz verkauft.

Skycouch Quelle: Presse

Morph-Sitz

Mehr Flexibilität verspricht der Morph-Sitz der britischen Firma Seymour Powell. Hier können die Passagiere die Breite des Mittelsitzes verändern und so die meist kaum 1,40 Meter weite Dreierbank beliebig aufteilen: in schmalere Plätze für Kinder und breitere für die Eltern zum Beispiel. Ein ähnliches Prinzip versucht die deutsche Sii Group aus Schwäbisch Hall. Ihr Santo Sitz lässt sich eine schmalere und eine breitere Hälfte teilen.

Schiebe-Trick

Dazu nehmen sich immer mehr Designer Dingen an, die Passgieren besonders lästig sind. Hilfe gegen die Staus in der Kabine beim Ein- und Aussteigen verspricht der Side-Slip-Sitz von Molon Labe Design aus den USA. Hier schiebt die Besatzung den Mittelsitz nach unten und den Gangplatz zur Seite. Dadurch wird aus dem sonst so engen Mittelgang fast ein Laufsteg, wo keiner mehr warten muss, weil andere Passagiere ihre Koffer nicht aus dem Gepäckfach bekommen oder im Winter mühsam den Mantel anziehen.

Keine lästigen Kniestöße vom Hintersitz verspricht der AirGo des Design-Studenten Alireza Yaghoubia. Denn bei seiner Idee sind alle Sitze bereits zurückgeklappt. Doch weil das Polster dünner ist und Dinge wie Klapptische oder Unterhaltungsbildschirme an der Decke hängen, braucht der Sitz trotz einer deutlich größeren Beinfreiheit nur wenig mehr Abstand zum Vordersitz. 

Was Flugreisende am meisten nervt
VerspätungenDie Reise-Webseite Trip-Advisor hat mehr als 1200 Reisende gefragt, was sie auf dem Flug in den Urlaub gar nicht mögen. Überraschend: Anders als bei der Bahn scheinen verspätete Flüge für gar nicht so viel Frust zu sorgen. Sie finden sich eher unten in der Liste der Nervtöter. Rund ein Drittel der Gäste (30 Prozent) ärgert sich, wenn die Maschine unpünktlich losfliegt oder landet. Quelle: dpa
Der Kampf um die ArmlehneFür mehr Unmut sorgen da die lieben Nachbarn. 32 Prozent der Befragten fühlen sich gestört, sobald ein Mitreisender versucht, die Armlehne in Beschlag zu nehmen. Quelle: dpa
Nervige SteuernAirline-Steuern und zu teure Tickets finden 33 Prozent der Reisenden gar nicht gut. Schließlich macht die Flugverkehrssteuer, die auf Mittelstreckenflügen 25 Euro beträgt, auch die Flüge von günstigen Airlines teurer. Quelle: dpa
Lange WarteschlangenGeduld mag zwar im Arbeitsalltag eine Tugend sein. Wenn es jedoch in den Urlaub geht, können viele Fluggäste den Trip ans Meer kaum abwarten. Deshalb finden wohl 49 Prozent von ihnen lange Warteschlangen an den Sicherheitsschleusen am Flughafen besonders frustrierend. Quelle: dpa
Zu wenig Platz für die HandtascheEs kann schon Mal verlockend sein, das Handgepäck-Limit der Airline so richtig auszuschöpfen – der Urlaub dauert ja seine Zeit. Blöd nur für die anderen Fluggäste, die ihr Gepäck neben den prall gefüllten Handtaschen und Rucksäcken ihrer Mitreisenden in den Ablagefächern über den Sitzen verstauen müssen. 51 Prozent finden das unmöglich. Quelle: dpa
Die rückende RückenlehneEbenso viele Befragte bringt es auf die Palme, wenn der Nachbar die Rückenlehne seines Flugsitzes mehrmals verstellt. Die eigene Bequemlichkeit geht eben vor. Quelle: DAPD
Die lieben KleinenEine Mehrheit der Fluggäste empfindet Kinder von Mitreisenden als Störenfriede. 52 Prozent fühlen sich von den Kleinen belästigt und können es gar nicht verstehen, wenn die Eltern den Nachwuchs nicht unter Kontrolle haben. Besonders ätzend finden sie, wenn Kinder aus Langeweile gegen den Sitz treten. Dabei sind die Kinder nur Teil des Problems. Ginge es nach den Zahlen der Umfrage, so würden die meisten Fluggäste am liebsten ein Privatflugzeug chartern – 69 Prozent von ihnen fühlen sich in irgendeiner Weise von den Nachbarn gestört. Quelle: REUTERS

Neue Maßanahmen in der Business-Class

Der wachsende Wettbewerb und die zunehmende Sparsamkeit der Geschäftsreisenden sorgt auch in der Business Class für neue Ideen. Noch in den Kinderschuhen stecken neue Designs, bei denen die Sitze mehr oder weniger schräg übereinander gestapelt werden. Am ansprechendsten für Reisende ohne Platzangst ist der Air Lair von Factorydesign aus London. Die leicht violette Wabe ist im Inneren besonders leise, hat eine Art Sternenhimmel und einen großen Bildschirm.

Mehr Flexibilität verspricht den Airlines der Butterfly von Paperclip. Er besteht aus zwei leicht versetzten Sitzen. Sie können beide als Sitz für eine Art Premium Economy genutzt werden. Dazu lassen sich bei beiden Sitzen die Rückenlehnen umklappen, sodass aus dem Ensemble dann ein Business-Class Bett für einen Reisenden wird.

Wann die neuen Sitze ihre Erstflüge machen, ist derzeit noch nicht absehbar. Zum einen sind trotz aller Kritik nur wenige Passagiere „offen für radikale Neuerungen“, glaubt Paperclip-Designer Lee. An einige wie das besonders karge Hexagon-Konzept mit Sesseln in zwei Sitzrichtungen werden sich nach der teilweise ätzenden Kritik nur wenige Airlines trauen.

Dazu kommen neben den technischen Anforderungen die hohen Kosten. Die Lufthansa hat ihre jüngste Version der Business Class mit flachen Betten erst seit dem Jahresende auf allen Flugzeugen – fast zwölf Jahre nach dem Start der vorigen Generation. Denn auch wenn die Sitze am Ende mehr Umsatz versprechen, sind sie mit bis zu 50.000 Euro pro Sitz zu teuer, um sie häufig auszutauschen.

Doch das wird am Ende nicht alle Airlines abschrecken. Wenn ein neues Design mehr Geld verspricht, so die Erfahrung, kann auf Dauer keine Airline widerstehen.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%