dol2day: Wo der Internet-Kanzler regiert

Und da soll jemand sagen, die Deutschen seien politikverdrossen: Gerade erst haben sie einen neuen Kanzler gewählt. Und zwar einen liberalen. Mit 56,27 Prozent Stimmenanteil holte der 26-jährige Jürgen Voß die absolute Mehrheit bei der Stichwahl gegen seinen sozialdemokratischen Herausforderer. Natürlich: Deutschlands Regierungschef ist Voß nicht -aber immerhin sein Internet-Kanzler.

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Unter seinem Pseudonym "elVOsso" wurde Voß von den Mitgliedern der Politcommunity "democracy online today" (oder kurz: dol2day) in ordentlicher demokratischer Wahl zum Kanzler gemacht. Insgesamt sei dol2day politische Bildung, sagt Voß, der "K@nzler", dessen Amtsperiode drei Monate lang ist. "Das Ziel der Community war ursprünglich, gegen Politikverdrossenheit anzugehen." Vier Studenten aus Aachen entwickelten die Idee, ein politisches Diskussionsforum im Internet einzurichten, in dem man sich mit interessierten Gleichgesinnten treffen, diskutieren und auch streiten kann. "Wir hatten festgestellt, dass es noch kein virtuelles Parteiensystem gab", erzählte Andreas Hauser, einer der Gründer. Und so setzten sich die vier, die allesamt an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen studieren, zusammen und begannen zu basteln. Was dabei herauskam, war das Diskussionsforum dol2day. Und um das Internet-Volk auch am virtuellen Polit-Geschehen wirklich teilhaben lassen zu können, ließen sie es regelmäßig Demokratie spielen und einen Internet-Kanzler wählen. Und zwar mit allem Drum und Dran: dol2day-Mitglieder müssen in virtuelle Parteien eintreten (oder solche gründen), kandidieren, gewählt werden. Sie müssen Vertrauensstimmen werben und stets präsent sein. Und Voraussetzung für den eigenen Erfolg ist – wie vielleicht auch im "real life" – Bimbes, die beliebte Politikerwährung. Die gibt es für rege Beteiligung an Diskussionsforen und Abstimmungen - oder fürs Absitzen, denn jede Online-Minute wird auch mit Bimbes vergütet. "Ein Indikator für Macht und Position innerhalb der Community", heißt es im dol2day-Hilfetext. Geplant ist demnächst auch, die virtuellen Parteien mit dem gesammelten Bimbes ihrer Mitglieder Wahlkämpfe finanzieren zu lassen. Alles wie im richtigen Leben eben. Bezüge dazu sieht auch der virtuelle Kanzler Voß, der in der wirklichen Welt in Kiel Jura studiert: "Die Erfahrungen, die wir im E-Government sammeln, können wir im real life umsetzen", sagt er und denkt dabei an Diskussionsforen oder Internet-Abstimmungen über kommunalpolitische Themen. Vorerst aber müssen noch virtuelle Debatten den Bezug zur realen Welt herstellen: "Demnächst gibt es eine Europa-Woche bei dol2day", sagte Voß. Gechattet werden kann dann unter anderem mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments, begleitet von europapolitischen Foren-Diskussionen. Seit knapp einem Jahr ist die Politcommunity online, 9530 Mitglieder hat sie derzeit. Zeit, eine Volksvertretung zu gründen. Man wolle jetzt eine Verfassung und ein Parlament installieren, erklärte Jürgen Voß. Seine Vorgänger im Amt hatten ähnliche Ideen: Sie führten Volksabstimmungen ("doliszite") und Benimmregeln ("doliquette") ein. Denn für so etwas ist der "K@nzler" mit seiner Mannschaft auch zuständig: Die inhaltliche Gestaltung der dol2day-Plattform obliegt völlig der Regierung. Die Aachener Redaktionsmannschaft ist nur für die technische Administration zuständig. Und übrigens auch für die Finanzierung: Noch bezahlen sie die Seite aus eigner Tasche. Die Betriebskosten seien zwar gedeckt, erklärte Andreas Hauser, nicht aber die Arbeitszeit der Beteiligten. "Das machen wir also ehrenamtlich." Mehr als nur zwei Seiten, also die ernsthaft-politische in den Diskussionsforen und die spielerisch-demokratische bei den Netz-Kanzlerwahlen, kann Internet-Kanzler Voß der Cyber-Kommune abgewinnen: "Es hat auch eine soziale Dimension. Man entwickelt Zuneigung und Abneigung untereinander", so der Regierungschef. Alles wie im richtigen Leben halt. Seit kurzem gibt es auch ein virtuelles Standesamt. Details zu dol2day.de

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