An Gazprom gebunden Wie entkommt Deutschland Gas-Knebelklauseln mit Russland?

Nord Stream forever, jedenfalls, was die Ausgaben betrifft? Anlagen der Nord-Stream-1-Pipeline in Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern. Quelle: dpa

Take-or-Pay-Klauseln in langfristigen Lieferverträgen könnten deutsche Firmen auf Jahre an Russland fesseln: Wer bestimmte Mengen nicht abnimmt, muss trotzdem zahlen. Welche Auswege aus diesem Dilemma gibt es?

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Der Knebel der deutschen Gas-Importeure hat eine präzise Bezeichnung: Er wird „Take-or Pay“-Klausel genannt. So eine Klausel sieht vor, dass der Kunde eines Gaslieferanten die vereinbarte Menge abnehmen kann (take), wenn er sie aber nicht abnimmt, muss er trotzdem dafür zahlen, zumindest für einen Teil davon. In Lieferverträgen für Gas sind solche Klauseln durchaus üblich, „seit Jahrzehnten, seit 50 Jahren, seitdem es Energielieferungen gibt“, sagt der Anwalt und Energierechtsspezialist Christian von Hammerstein.

Neue, alte Fallstricke bei der Flucht aus Putins Falle

Mit Blick auf die Lieferverträge deutscher Gasimporteure mit dem russischen Export-Monopolisten Gazprom, etwa von Uniper in Düsseldorf oder der EnBW-Tochter VNG in Leipzig, könnten die Take-or-Pay-Klauseln künftig zu einem immensen Problem werden. Denn zwar versucht die Bundesregierung, und allen voran Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne), derzeit alles Erdenkliche, um ja nur schnell weg zu kommen von russischer Kohle, russischem Öl und russischem Gas. So reist Habeck etwa nach Katar, um dort für neue Lieferverträge von Flüssigerdgas (LNG) zu werben, er spricht mit den USA oder sagt Milliarden für LNG-Terminals in Deutschland zu. Auch hat er verkündet, dass man es bereits geschafft habe, den Anteil des russischen Gases an dem gesamten Gasverbrauch in Deutschland von 55 Prozent im Jahr 2021 auf jetzt rund 40 Prozent zu reduzieren.

Aber selbst wenn Habeck es schaffen würde, den Anteil des russischen Gases auf Null zu drücken, könnten die Take-or-Pay-Klauseln Unternehmen früher oder später dazu zwingen, Lieferungen von Gazprom zu bezahlen – ob sie nun das Gas abnehmen oder nicht. Es geht um Beträge in Millionen-, in Milliardenhöhe. Und das Problem zeigt: Bei der Flucht aus Putins Erdgasfalle gibt es immer wieder neue, alte Fallstricke.

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Verträge laufen bisweilen bis 2036

Wie umfassend die Zahlungsverpflichtungen deutscher Firmen genau sind, und vor allem, wie lange die entsprechenden Verträge laufen, ist ungewiss. Es handele sich um Geschäftsgeheimnisse, sagt der Jurist von Hammerstein, Partner der Berliner Wirtschaftskanzlei Raue. Sicher ist: Das Erbe der engen, fast unentwirrbaren Verflechtungen mit Russland im Gasgeschäft lastet schwer und nachhaltig. Denn früher brüsteten deutsche Unternehmen sich regelrecht damit, lange Lieferverträge mit Gazprom abgeschlossen zu haben, gerne über 20, 30 Jahre. 2006 etwa verkündete Uniper-Vorgänger E.On Ruhrgas stolz, dass man vereinbart habe, dass Gazprom bis 2036 insgesamt 400 Milliarden Kubikmeter Erdgas (BCM) liefern werde, rund 24 Milliarden Kubikmeter pro Jahr. Bis 2036!

Über die „Take-or-Pay“-Klauseln berichtet hat in dieser Woche das ZDF-Magazin „Frontal 21“ und dabei auch Jack Sharples, einen Gasmarktexperten des britischen Thinktanks Oxford Institute for Energy Studies, zitiert. Sharples hat vor einigen Wochen gemeinsam mit Kollegen eine Analyse veröffentlicht, in der er versucht hat zu beantworten, woher Europa sein Gas eigentlich realistisch genau beziehen kann, wenn die russischen Gasquellen versiegen sollten. In der Analyse hat er das „Take-or-Pay“-Dilemma nur kurz gestreift, aber auf das Problem hingewiesen, das entstehen könnte: „Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass die Reduktion der Importe aus Russland in dem beabsichtigen Ausmaß das Niveau der Importe weit unter die Take-or-Pay-Niveaus in den Langzeitverträgen drücken würde.“



Und Sharples und Kollegen werfen in der Analyse die Frage auf: „Könnte die EU den europäischen Käufern befehlen, Gas deutlich unter den Take-or-Pay-Levels abzunehmen und sie dann mit der Pflicht allein lassen, für Gas zu zahlen, das sie gar nicht abgenommen haben?“ Und selbst wenn es so wäre: „Warum sollten Käufer“, fragen Sharples und Kollegen, so einer Anweisung Folge leisten, „außer es gebe eine Strafandrohung der EU oder ihrer jeweiligen nationalen Regierungen?“

Ein Gasembargo der EU wäre Höhere Gewalt

Rechtlich, so scheint es, gibt es aus den Take-or-Pay-Verpflichtungen in den Verträgen kaum einen Ausweg. Nur in zwei Fällen könnten die europäischen Abnehmer von ihren Pflichten gegenüber Gazprom entbunden werden. Eine Möglichkeit, von den Abnahme- und Zahlungspflichten befreit zu werden, wäre ein von der Europäischen Union verhängtes Gasembargo, erklärt Anwalt Christian von Hammerstein. „Das gilt dann als Höhere Gewalt“, sagt er. „In so einem Fall sehen die Verträge in der Regel vor, dass die Abnehmer dann von ihren Leistungspflichten befreit werden.“ Als Höhere Gewalt gilt jedes Ereignis, wie von Hammerstein erklärt, „auf das keine der Vertragsparteien einen Einfluss hat.“ Ein Krieg gehört dazu, ein Streik, Naturereignisse. Aber auch staatliche Interventionen. „Wirtschaftssanktionen sind der klassische Fall einer Höheren Gewalt.“ Allerdings hat sich gerade die Bundesregierung bisher gegen so ein Gas-Embargo gesträubt, gerade die energieintensive Industrie fürchtet zu große Folgeschäden für die deutsche Wirtschaft.

Ein Lieferstopp würde deutsche Unternehmen entbinden

Eine zweite Variante, die Verträge zu beenden, wäre es, damit auf einen Lieferstopp, selbst einen kurzfristigen Lieferstopp, von Gazprom zu reagieren. Erst Mitte dieser Woche hat Gazprom die Lieferung an Polen und Bulgarien eingestellt und das damit begründet, dass die jeweiligen Gaskonzerne nicht, wie von Moskau gefordert, in Rubel gezahlt hätten. „Wenn der Fall eintritt, das Wladimir Putin Gazprom anweist, die Gaslieferungen nach Deutschland einzustellen und nicht mehr zu liefern, dann ist das ein Bruch der Verträge. In der Regel wäre das auch ein wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung durch die deutschen Importunternehmen“, sagt von Hammerstein. Eventuell müsste vor Kündigung noch eine Frist gesetzt werden, verbunden mit einer Lieferaufforderung.

Bisher aber hat Gazprom seine Verträge gegenüber deutschen Firmen erfüllt, trotz des Ukrainekriegs und der gegen Russland verhängten Sanktionen. „Solange die Russen sich vertragskonform verhalten, gelten die Verträge und auch die Klauseln“, sagt von Hammerstein. „sobald sie vertragsbrüchig werden, gibt es die Möglichkeit, die Verträge für unwirksam zu erklären.“

Und was ist jetzt mit den Rubelzahlungen?

Heikel ist dabei die Diskussion über die Frage, in welcher Währung deutsche Unternehmen denn in den nächsten Tagen und Wochen die Gaslieferungen aus Russland bezahlen. Mit einem Dekret von Ende März hat Putin verlangt, dass alle Lieferungen in Rubel beglichen werden müssten, obwohl bisher in Euro oder Dollar bezahlt wurde. Politisch wollen sich weder die EU noch Deutschland Putinschen Vorgaben beugen.

Praktisch gibt es mittlerweile eine scheinbar machbare Kompromissvariante. Die sieht die Eröffnung eines Doppelkontos bei der Gazprom-Bank vor. Die Firmen zahlen in Euro oder Dollar auf ein Konto, die Bank wechselt das Geld in Rubel, damit wird dann Gazprom bezahlt. Die EU-Kommission hält das für einen möglichen Weg, auch in Berlin scheint das eine gute Variante. Theoretisch könnte man das, im engeren Sinn, auch als eine Vertragsänderung begreifen, von Putin erzwungen, die eine Kündigung der Verträge erlauben könnte. Nur: Das will politisch derzeit keiner, weil die Abhängigkeit vom Gas noch zu groß ist. Nur schnell her damit, so viel als möglich, lautet die Devise.  

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Theoretisch könnten Europa und Deutschland also zusehen, dass sie nun russisches Gas bunkern, die Speicher füllen, neue Quellen erschließen. Ein Embargo könnte man dann verhängen, wenn man es sich leisten kann und Take-or-Pay loswerden möchte, in ein, zwei Jahren. Aber ist das dann noch vorstellbar, wenn mutmaßlich versucht wird, wieder irgendeine Brücke nach Russland zu bauen? Jack Sharples und seine Kollegen sind sich in ihrer Analyse jedenfalls sicher, dass es staatlicher Intervention braucht, um sich der Knebelklauseln zu entledigen: „Wenn die Käufer sich weigern, die Take-or-Pay-Zahlungen zu leisten, wird Gazprom nach dem Ende des Konflikts vermutlich jeden Rechtsstreit leicht gewinnen.“

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