In der Welt der Atomkonzerne wird Zeit schon mal in Jahrtausenden gemessen. So lange müssen jene Endlager sicher halten, in denen sie den strahlenden Abfall aus Kraftwerken entsorgen. Dagegen wirken Klagen, die ein paar Jahre in Gerichtsstuben liegen, geradezu flott bearbeitet.
Doch die Klagen, mit denen die Kraftwerksbetreiber den deutschen Staat eingedeckt haben, entfalten regelmäßig Sprengkraft. So auch vergangene Woche in Karlsruhe, wo die Verfassungsrichter E.On, RWE und Vattenfall ein Recht auf Entschädigung wegen des beschleunigten Atomausstiegs 2011 zusprachen. Bis Mitte 2018 muss der Gesetzgeber die Vorgaben nun umsetzen. Dann könnten die Konzerne mit Zivilklagen gegen ihn vorgehen. Nach ihren eigenen Schätzungen könnten sie 19 Milliarden Euro erstreiten.
Dann das: Am Freitagabend berichtete die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf ein Schreiben der Versorger an die Bundestagsfraktionen von Union, SPD und Grünen, dass die AKW-Betreiber zur Rücknahme einiger Klagen – etwa gegen das nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima verhängte dreimonatige Betriebsverbot für mehrere Meiler – bereit seien. Voraussetzung sei, dass die Empfehlungen der Atomkommission wie geplant umgesetzt würden und es eine vertragliche Vereinbarung dazu gebe.
Für Kritiker ist das nicht genug. „Wenn die AKW-Betreiber jetzt 20 Klagen fallen lassen, so ist das nicht viel mehr als eine PR-Maßnahme“, sagte Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Organisation „ausgestrahlt“. In diesen Verfahren gehe es lediglich um 600 bis 800 Millionen Euro. Dagegen umfassten die Klagen, die die Konzerne weiter aufrechterhielten, ein Volumen von elf bis zwölf Milliarden Euro. Zurückgezogen würde also lediglich ein Anteil von fünf bis sieben Prozent.
Wie viel der Staat zahlen muss, ist also nach wie vor offen – 19 Milliarden werden es sicher nicht. Trotzdem wird der Atomausstieg nach der Katastrophe von Fukushima den Steuerzahler noch einiges kosten. Denn das Urteil aus Karlsruhe ist nur die Spitze des Eisbergs. Es läuft noch ein ganzes Bündel von Verfahren:
Die Atomklagen in der Übersicht
Gut fünf Jahre nach der Katastrophe von Fukushima vom 11. März 2011 und dem abrupten deutschen Atomausstieg rollt die Welle von Schadenersatz-Klagen der Energiewirtschaft weiter – allerdings mit wenig Erfolg aus Sicht der Industrie. Anfang Juli wies das Landgericht Hannover die Forderung des Stromriesen Eon nach knapp 380 Millionen Euro Schadenersatz für die Betriebseinstellung der Atommeiler Isar 1 und Unterweser zurück. Eon wird wohl in Berufung gehen.
Auch in den bisherigen Verfahren zum 2011 verhängten Atom-Moratorium hatten sich die Gerichte zugeknöpft gezeigt: In Essen korrigierte das Gericht Ende 2015 den Schadenersatzanspruch von RWE noch vor der Entscheidung deutlich nach unten, in Bonn kassierte der EnBW-Konzern im Februar 2016 eine glatte Abweisung.
Das dreimonatige Moratorium für die ältesten deutschen Blöcke hatten die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Atomländer wenige Tage nach Fukushima vereinbart. Kurz danach folgte die Änderung des Atomgesetzes mit dem endgültigen Aus für zunächst acht Kraftwerke und dem Ausstiegsszenario für die übrigen Anlagen bis Ende 2022. Eon sieht sich bei Isar 1 und Unterweser enteignet und verlangt vom Bund sowie den Ländern Bayern und Niedersachsen eine Entschädigung. „Ich erwarte Gerechtigkeit“, hatte Konzernchef Johannes Teyssen im Frühjahr zu den Atomklagen zur Vorlage seiner Jahreszahlen gesagt. Diese waren – nicht zuletzt wegen der Energiewende – tiefrot.
Alle Kläger stützen sich auf eine Entscheidung des hessischen Verwaltungsgerichtshofes von Anfang 2013. Das Gericht hatte das Moratorium für die beiden RWE-Kraftwerksblöcke von Biblis an der Bergstraße für rechtswidrig erklärt – unter anderem, weil RWE vor der Entscheidung nicht ordnungsgemäß angehört worden sei. Die Entscheidung wurde vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt.
Schon in der mündlichen Verhandlung Ende April hatte der Vorsitzende Richter in Hannover, Martin Schulz, Zweifel an der Eon-Position angemeldet. Schließlich habe sich Eon 2011 gegen die möglicherweise rechtswidrigen Staatsauflagen nicht gewehrt. Wer nicht klage, könne nicht nachträglich Schadenersatz verlangen, sagte Schulz. Diese Sichtweise bestimmte nun auch das Urteil: Mit einem Gang zum Verwaltungsgericht hätte Eon das Moratorium möglicherweise stoppen können, sagte das Gericht. Auf die verbreitete Anti-Atomstimmung nach Fukushima, die einen solchen Schritt unmöglich gemacht habe, könne sich Eon nicht berufen. Schließlich sei die Kernenergie schon lange vor der Katastrophe in Japan umstritten gewesen.
Das wichtigste Verfahren ist die Mitte März dieses Jahres verhandelte Grundsatzklage von Eon, RWE und Vattenfall gegen den schnellen Atomausstieg vor dem Bundesverfassungsgericht. Bisher ist nicht bekannt, wann hierzu das Urteil fällt. Falls die Konzerne beim höchsten deutschen Gericht gewinnen, könnten Zivilrechtsverfahren mit Forderungen in zweistelliger Milliardenhöhe folgen.
Das bezweifeln manche Beobachter. Schließlich steht der milliardenschwere Atomausstieg an – und die Industrie will dringend die kaum kalkulierbaren Lasten für die Endlagerung loswerden. Nach dem Vorschlag der Atom-Kommission von Ende April sollen Eon, RWE, Vattenfall und EnBW dafür insgesamt 23,3 Milliarden Euro in einen Fonds überweisen. Über Details wird derzeit heftig hinter den Kulissen gerungen. Das Fallenlassen aller Klagen seitens der Industrie könnte zur Verhandlungsmasse in diesem Poker um Milliarden zählen, wird vermutet.
- Bald muss Karlsruhe über die 2011 verhängte Brennelementesteuer entscheiden. Hier drohen dem Staat Regressforderungen von mehr als fünf Milliarden Euro.
- Fast eine Milliarde Euro fordern E.On, RWE und EnBW wegen des Atom-Moratoriums: Unmittelbar nach Fukushima 2011 durften sie drei Monate die sieben dienstältesten deutschen Atomkraftwerke nicht betreiben, das in Krümmel wurde geschlossen.
- Auch die Entsorgung der Abfälle ist juristisch noch nicht abgeschlossen. So will etwa E.On Schadensersatz für die bereits erfolgten Arbeiten am 2012 von der Politik gestoppten Zwischenlager Gorleben erstreiten. Diese Klage will der Konzern jetzt aber fallen lassen.
- Ein von Vattenfall in den USA angestrengtes Schiedsgerichtsverfahren könnte noch Überraschungen bereithalten. Wenn der schwedische Konzern gewinnt, wird auch E.On davon profitieren.
Schiedsverfahren sind transparent, aber mühsam. Das war unlängst per Livestream des Schiedsgerichts ICSID zu verfolgen. In einem schmucklosen Raum in Washington saßen dicht gedrängt honorige Professoren und Anwälte um einen ovalen Tisch und hielten stundenlang Monologe über Atomenergie. Das Video war kein Straßenfeger. Spannend ist der Inhalt dennoch: Immerhin 4,7 Milliarden Euro Schadensersatz fordert Vattenfall wegen des übereilten Atomausstiegs von der Bundesrepublik.
Sollte Vattenfall Erfolg haben, wird auch E.On profitieren. Zwar darf der Essener Konzern selbst kein Schiedsgericht gegen den eigenen Staat anrufen. Doch in Washington geht es auch um Beteiligungen von E.On. An dem Kernkraftwerk Krümmel hält der Konzern rund 50 Prozent, in Brunsbüttel ist es knapp ein Drittel. Bei einem Sieg Vattenfalls würde deshalb auch Geld nach Essen fließen. Entschieden werden soll das Verfahren Mitte des kommenden Jahres.