City-Gärten Bio über Berlin

Washington hat sie, Vancouver und Berlin: Biogärten mitten im Zentrum. Weltweit entdecken Stadtbewohner ihre Liebe zur Landwirtschaft: Sie züchten Gemüse auf Dächern und am Straßenrand und entwickeln alternative Geschäftsmodelle.

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Gemüse Quelle: dpa/dpaweb

Im Herzen Berlins ein Kreisverkehr, umgeben von Hochhäusern. Autos donnern auf der mehrspurigen Bahn vorbei, unterirdisch rattert die U-Bahn. Doch nur ein paar Schritte entfernt liegt eine Oase, in der üppig Kräuter und Gemüse wachsen. Bäume spenden Schatten. Frauen und Männer arbeiten an einem Beet, Jugendliche bauen ein Baumhaus. An einem Tisch können Passanten selbst gezüchtete Kartoffeln und in einem kleinen Café Gemüsequiche mit frisch geerntetem Salat kaufen.

Ein Hauch von Landidylle mitten in der Großstadt? In den Prinzessinnengärten am Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg, einem dicht besiedelten Innenstadtbezirk mit 16,7 Prozent Arbeitslosigkeit, der sonst allenfalls mit angezündeten Autos in die Schlagzeilen gerät, ist das Wirklichkeit geworden. „Ein Versuchslabor für die nachhaltige Stadt von morgen“, nennen es die Gründer Marco Clausen, 36, und Robert Shaw, 33. Ihr Sozio-Biotop wurde im deutschen Expo-Pavillon in Shanghai als möglicher Beitrag zur „BalanCity“, der Stadt im Gleichgewicht, vorgestellt.

Wolkenkratzer-Gemüse

Die beiden verfolgen Nachhaltigkeit nicht nur auf ökologischer Ebene, indem sie 260 Gemüsesorten in Bioqualität lokal und saisonal anbauen und so einen Beitrag zu einem gesünderen Stadtklima leisten. Clausen und Shaw engagieren sich auch sozial: Die Prinzessinnengärten sind ein Ort, an dem man Menschen aller Couleur trifft. Werbetexter wie Jonathan Hamnet aus Manchester zum Beispiel, den die Neugierde herlockt. Oder die beiden chinesischen Migrantinnen, die hier ihren Asia-Salat züchten. Oder die Kids aus dem Kiez, die im Rahmen des Projektes Stadtsafari Baumhäuser bauten.

Die Idee, Gemüse mitten in der Stadt zu pflanzen, Gärten in Metropolen anzulegen, erlebt zurzeit einen regelrechten Boom. Am meisten Aufsehen erregte wohl Amerikas First Lady Michelle Obama, die im Sommer 2009 auf dem Grundstück des Weißen Hauses mit Schulkindern einen Biogemüsegarten anlegte.

In Kanada, dem zweitgrößten Land der Erde, starteten Alisa Smith and J.B. Mac-K--innon 2006 den Versuch, sich ein Jahr lang nur von Produkten zu ernähren, die einem 100-Meilen-Radius um ihre Heimatstadt Vancouver entstammten – und traten mit ihrem Blog und anschließenden Bestseller über ihre „Klima-Diät“ eine kanadaweite Bewegung los.

Auch Tokio hat die grüne Bewegung erfasst. Auf dem Dach des Edelkaufhauses Matsuya in der teuren Einkaufsmeile Ginza wachsen seit zwei Jahren Salatköpfe und Knollen 30 Meter über der Erde. Dutzende Kaufhausangestellte pflegen die Pflanzen – freiwillig. Der japanische Kommunikationsgigant NTT baut auf seinem Wolkenkratzer Kartoffeln an. Selbst auf den knapp 240 Meter hohen Luxus-Wohntürmen von Roppongi Hills können die Bewohner zwischen rund 20 000 Quadratmeter Grünflächen flanieren, während unten der Verkehr dahinrauscht. 

Idee aus Kuba

Die Idee für Berlin bekam Filmemacher Shaw während einer Kubareise: Dort hat sich der Eigenanbau in Städten auf jeder nutzbaren Fläche aus dem Mangel heraus entwickelt. 2009 pachteten Shaw und der Historiker Clausen vom Berliner Liegenschaftsfond das 6000 Quadratmeter große Grundstück. 2300 Euro monatlich für eine Brache im einstigen Mauerschatten, die sie so lange nutzen dürfen, bis sich ein solventer Käufer findet.

Um mobil zu bleiben, pflanzen sie nicht in den Boden, sondern in Kisten, Säcken und sogar in umfunktionierte Tetrapacks: Möhren und Knoblauch, duftende Kräuter, 16 Sorten Kartoffeln, darunter fast ausgestorbene wie der „Blaue Schwede“, und hochwachsende Amaranth-Stauden.

Im Herbst haben die Prinzessinnen-Gärtner den Umzug geprobt: zuerst für zehn Tage in ein Theater, als Teil des Festivals „Zellen. Life Science – Urban Farming“. Und schließlich in eine leer stehende Markthalle, wo sie den Winter über gemeinschaftlich weitergärtnern wollen.

Auch Zulieferer folgen bereits dem Bürger-Biogartenboom: Bauerngarten oder Meine Ernte heißen sie und beraten die Großstädter, wann sie was ernten können, und vermitteln für den Privatanbau Ackerboden zur Pacht bei Berliner Bauern.

Auch in den USA sind City-Gärten ein wichtiges Mittel, Umwelt und Gesellschaft zu verbessern. Seit 1978 betreibt die Stadt New York, Abteilung für Parks und Freizeit, das Programm Green Thumb, das die von Ehrenamtlichen auf ungenutzten Flächen gegründeten Gärten vernetzt und mit Geld und Workshops unterstützt. Heute sind es 600, auf kommunalem wie privatem Grund, die wie die Prinzessinnengärten viele Funktionen erfüllen. In den USA sind die Gärten wichtige Lernorte im Kampf gegen falsche Ernährungsgewohnheiten und Übergewicht.

„Berlin ist Deutschlands Hauptstadt der Gemeinschaftsgärten“, konstatiert Frauke Hehl, die in den vergangenen zehn Jahren eine Handvoll mitgegründet hat. Und 2005 das Allmende-Kontor, ein von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin und der Stiftung Interkultur in München gefördertes Projekt zur Vernetzung der Berliner Garteninitiativen. „Das Interesse, im öffentlichen Raum zu gärtnern, ist heute groß“, stellt sie fest. „Quer durch alle Bevölkerungsgeschichten.“

Die Gründe dafür: eigene Gestaltungsmöglichkeiten, geringere Kosten als für einen Schrebergarten, Raum zum Entdecken für Kinder, Erleben der verlassenen Heimat vor allem bei Migranten.

Erster Gemeinschaftsgarten Wiens

Hinzu komme „häufig die politische Motivation, brach liegende Flächen sinnvoll zu nutzen und unabhängiger von einer globalisierten und industrialisierten Lebensmittelproduktion zu werden“, berichtet Bildungswissenschaftlerin und Buchautorin Nadja Madlener.

Als Madlener 2007 nach Wien zog, gründete sie dort den Verein Gartenpolylog und den ersten Gemeinschaftsgarten der Stadt. Die Stadt Wien unterstützt inzwischen Ansätze, Gemeinschaftsgärten in den sozialen Städtebau zu integrieren. In Leipzig-Grünau erprobt eine private Wohnungsbaugesellschaft erfolgreich das gleiche Konzept. Die Wohnzufriedenheit ist seither deutlich gestiegen.

Kaffee und Beratung

Shaw und Clausen haben die gGmbH Nomadisch Grün gegründet, deren Geschäftsführer sie sind. Dies ermöglicht es ihnen, unabhängig zu werden von Spenden und Projektgeldern. Inzwischen finanzieren die beiden ihr Projekt nicht nur über Gemüseverkauf, Cafébetrieb und Catering. Sie beraten auch Kommunen zu den Themen Grün in der Stadt und wie die Bürger beteiligt werden können. Ob sie damit ein Finanzierungsmodell für andere Initiativen gefunden haben, wird sich zeigen. Die von Frauke Hehl mitgegründeten Gemeinschaftsgärten sind alle eingetragene Vereine.

Anlaufstelle für Gärtner

Aktuell steht ein neues Projekt an: Hehls Allmende-Kontor darf als sogenannter Pioniernutzer auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof eine 5000 Quadratmeter große Fläche beackern. Zunächst für drei Jahre, doch mit Option auf Verlängerung. „Wir wollen dort die ganze Bandbreite zeigen: vom Heilgarten über interkulturelle Gärten bis zum Schulgarten.“

Außerdem will der Verein eine Anlaufstelle für die bisher nur lose vernetzten Berliner Gärten schaffen und Seminare anbieten. Nur über das Ehrenamt wird sich das allerdings nicht stemmen lassen: 5000 Euro pro Jahr fallen alleine an Instandhaltungskosten für die Fläche an.

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