Frank Mastiaux kommt ohne Anzugjacke und Krawatte in die Berliner EnBW-Residenz direkt am Schiffbauerdamm. Ein kurzer Rundumblick durch die gewaltige Fensterfront auf den Bahnhof Friedrichstraße und das Theater des Berliner Ensembles, dann setzt er sich mit einem hörbaren Schnaufer, greift sich eine Plastikflasche Evian-Wasser und nimmt einen kräftigen Schluck.
Der Chef des baden-württembergischen Stromversorgers wirkt gehetzt. Die Maschine von Stuttgart war verspätet. Und er muss gleich zu einem Empfang des Bundespräsidenten. Mastiaux streckt die Beine aus und blickt auf ein Papier, das ihm seine Helfer vorbereitet haben. „Wir müssen Neues wagen“, liest er laut vor, fegt das Blatt weg und wechselt das Thema. „Wie finden Sie mein Büro? Ist es nicht etwas zu groß?“
So ist er, der Vorstandsvorsitzende des drittgrößten deutschen Energiekonzerns: selbstironisch, sprunghaft-schnell, eigentlich untypisch für einen Konzernlenker.
Seine Vita könnte der 49-Jährige rasch herunterrattern: Abitur in Gladbeck, Chemiestudium im benachbarten Bochum, Promotion über „Quantitative Schwingungsspektroskopie von Mineralölprodukten“, 1993 Einstieg beim Tankstellenkonzern Aral in Bochum, danach acht Jahre beim Mineralölmulti BP in London, 2007 Chef der erneuerbaren Energien beim Düsseldorfer Energiekonzern E.On, 2010 zuständig für dessen Geschäft in Schwellenländern, seit Oktober 2012 Chef von EnBW mit Doppelsitz in Karlsruhe und Stuttgart.
In einem ganz engen Zeitkorsett muss Mastiaux nun alles auf einmal hinbekommen, was er bisher etappenweise bewältigte, und das an der Spitze eines Konzerns mit 20 Milliarden Euro Jahresumsatz und 19 000 Beschäftigten.
Der Endvierziger hat einen der härtesten Jobs, den Deutschlands Industrie zurzeit zu vergeben hat. Denn er sitzt gleich in mehreren Fallen. Kein Energiekonzern war so abhängig vom Atom wie EnBW, aber die Gewinne aus den vier Atomkraftwerksblöcken, vor der Energiewende gut eine Milliarde Euro, fallen bis 2022 vollständig weg. Auf die EnBW-Kohlekraftwerke zu hoffen bringt nichts, ihr einstiger Gewinn von 500 Millionen Euro verwandelte sich in Verluste, weil massenhaft hoch subventionierter Ökostrom Vorrang genießt. Bliebe nur, die Lücken durch Windstrom zu füllen. Doch die Einnahmen sind vergleichsweise gering, und Bürger mosern gegen Masten.
Natürlich ist Mastiaux kein Anfänger. Er hat bei E.On und vorher bei BP gelernt, wie das internationale Energiegeschäft funktioniert und wie groß die Abhängigkeit von der Politik, endlosen Genehmigungen, Umweltauflagen und der Bevölkerung ist. Bei EnBW bekommt er das zwar auch zu spüren, doch vielfach potenziert und auf die kommenden sieben Jahre verdichtet.
Keine Frage, Mastiaux hat einen der politischsten Jobs der deutschen Wirtschaft. Er braucht den neuen Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel (SPD), um den Umstieg auf grünen Strom und gleichzeitig die Nutzung der EnBW-Gaskraftwerke hinzubekommen. Zu Hause in Baden-Württemberg ist er mit dem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann konfrontiert, der den Konzern als Großaktionär (Landesanteil: 46 Prozent) kontrolliert. Kretschmann drängt darauf, dass sich EnBW zum Ökounternehmen mausert und in seiner Legislaturperiode 1000 Windräder in Baden-Württemberg errichtet. Bis jetzt betreibt EnBW gerade mal 17.
Schließlich muss Mastiaux die erzkonservativen oberschwäbischen Kommunen zufriedenstellen, die ebenso 46 Prozent der Aktien halten und anders als Kretschmann eher gegen Windräder zwischen Schwarzwald und Neckartal sind. Mastiaux muss es ihnen allen recht machen, dabei sympathisch wirken und nicht anecken wie sein Vorvorgänger Utz Claassen.
Misere ohne Ende
In seinem Job sei das Problem Politik doppelt schwierig, sinniert Mastiaux und wagt einen vorsichtigen Fingerzeig an die christdemokratisch und grün angehauchte Fraktion in seinem Aufsichtsrat. „Die Anteilseigner der Landesregierung im Aufsichtsrat trennen zwischen der Verantwortung für das Land und den parteipolitischen Farben.“ Er fordert das auch ein.
Ohne sich durchzulavieren, wird Mastiaux als EnBW-Chef kaum überleben. Dass er bisher kaum Windräder gebaut hat, relativiert er und meint: „Nicht alle baden-württembergischen Windräder müssen von EnBW errichtet werden.“ Mastiaux weiß zu gut, wie schnell er es sich mit einflussreichen Politikern verscherzen kann, wenn er mit Windrotoren die Augenweiden in Tourismusregionen stören würde.
Mastiaux hat es nicht leicht in Deutsch-Südwest. Er ist weder Württemberger noch Badener, er stammt aus dem Ruhrpott. Darum versucht er sich gar nicht erst auf Schwäbisch, noch viel weniger auf Berater-Denglisch. Stattdessen ist er bemüht, den kumpelhaften Typ zu geben, ansonsten aber Klartext zu reden.
Viel anderes bleibt Mastiaux auch nicht. Denn sein Handlungsspielraum ist ziemlich eng. 2011 verbuchte EnBW wegen der Abschaltung zweier Blöcke der Atommeiler in Neckarwestheim und Philippsburg schlagartig einen Verlust in Höhe von 900 Millionen Euro. Es folgte ein Jahr mit 2,3 Milliarden Euro Überschuss vor Zinsen, Abschreibungen und Steuern. Vor der Energiewende waren die Gewinne dreimal so hoch.
Und die Misere nimmt kein Ende. In den ersten neun Monaten des Geschäftsjahres 2013 brach der ohnehin schmale Gewinn um 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr ein, weil EnBW nicht ausreichend Strom absetzen konnte. Besserung ist kaum in Sicht. Neben seinen beiden Atommeilern, die zum Auslaufen verdammt sind, verfügt Mastiaux noch über 43 Kohlekraftwerksblöcke, die allesamt unwirtschaftlich sind.
Das ist prekär, denn EnBW versorgt nicht das dünn besiedelte flache Land, sondern eines der industriellen Zentren Deutschlands mit mittelständischen Weltmarktführern und Großunternehmen wie Audi, Bosch oder Porsche. Gelingt der Ausstieg aus der Atomkraft nicht, ohne gleichzeitig für eine grüne und sichere Alternative zu sorgen, gefährdet Mastiaux die Jobs, die dem Ländle eine Spitzenposition in Deutschland beschert haben.
„Wir müssen rasch neue Erlösquellen erschließen“, doziert Mastiaux. Um das Vabanquespiel zu illustrieren, nimmt Mastiaux einen Kugelschreiber und skizziert mit schnellen Strichen die Gewinnentwicklung von EnBW bis 2020. Der Überschuss der konventionellen Kraftwerke vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen von 1,2 Milliarden Euro 2012 wird bis 2020 auf läppische 300 Millionen Euro zurückgehen. Die riesige Lücke von 900 Millionen sollen die erneuerbaren Energien schließen, die fast dreimal so viel Einnahmen bringen sollen, sowie Anlagen zur dezentralen Energieversorgung. So will es der grüne Kretschmann. Mastiaux wird kämpfen müssen, um das zu erreichen.
Als Nächstes heißt es aber, alles zu unternehmen, um wenigstens einem Teil seiner Kohle- und Gaskraftwerke eine Geschäftsgrundlage zu verschaffen: indem er die Bundesregierung überredet, den Meilern Einnahmen zu verschaffen, auch wenn sie nur als Reserve bereitstehen.
Wie, das hat Mastiaux vor der Wahl schon Kanzlerin Angela Merkel vorgetragen: Wer unsteten Ökostrom produziert, soll Zertifikate erwerben, um damit die fehlende Versorgungssicherheit bei Betreibern fossiler Kraftwerke auszugleichen. Ob die Regierungschefin und ihr neuer Wirtschafts- und Energieminister die Idee gut finden, wird die Neujustierung der Energiewende zeigen.