Ich gebs zu. Ich stamme aus Bayern, und kenne daher jenen Ur-Stolz auf die Schönheit des Südens nur zu gut, gerade jetzt, im Winter. Wie sieht es denn auch aus, das idealtypische, deutsche Weihnachten, landschaftlich betrachtet? Da liegt ein Haus, gerne aus Holz, meterhoch zugeschneit, in einem Bergtal, Innen hell und warm erleuchtet. Es ist eine süddeutsche Weihnacht, die uns das vorschwebt, wie so vieles auch im Wirtschaftsleben idealtypisch süddeutsch zu sein scheint: Laptop und Lederhos’n, die IT-Landschaft in München, ob Microsoft oder Amazon, die Autobauer rund um Stuttgart, Mercedes oder Porsche. In den vergangenen Jahren, so scheint es, rutschte das unternehmerische Herz der Deutschen zunehmend aus dem Westen, wo die Sonne verstaubt, gen Süden, wo Markus Söder stolz mit Zukunftsfähigkeit prahlte.
Eine neue wirtschaftliche Geografie
Ich glaube aber, dass sich diese wirtschaftliche Geografie im vergangenen Jahr aufs Neue gewandelt, verschoben hat, Richtung Norden – und zwar sehr schnell und sehr gewaltig. Denn der Angriffskrieg Wladimir Putins auf die Ukraine im Februar hat den Deutschen mit einem Schlag deutlich gemacht, wie wichtig, aber gleichzeitig auch gefährdet, die eigene Energieversorgung ist, nicht nur von Haushalten, sondern auch von Unternehmen, der Industrie. Dadurch sind alte Zusammenhänge plötzlich ins Rampenlicht gerückt worden – und auch neue Orte. Wer hat sich denn, abgesehen von Profis, vor der Krise ernsthaft damit beschäftigt, welche Pipelines es aus Russland gibt, wie das Öl über die Röhren der Druschba-Pipeline in die so wichtige Raffinerie nach Schwedt gelangt? Wen hat die Sorge umgetrieben, dass Deutschland keine Flüssiggas-Importterminals hat? Und wer konnte nachts nicht schlafen, weil das Fehlen von Hochspannung-Gleichstrom-Übertragungs-Leitungen von Nord nach Süd zu riskanten Ungleichgewichten im deutschen Stromsystem führen kann?
Und interessanterweise sind es vor allem norddeutsche Orte, die eine zunehmende Rolle spielen, weil hier der Wind so kräftig weht, dass er sich ernten und in Strom verwandeln lässt, klar, aber auch, weil hier Schiffe anlanden können, die Energie bringen, die vorher durch die Pipelines aus dem Osten nach Deutschland strömten.
LNG-Zentrum Wilhelmshaven
Der wichtigste Ort ist wohl Wilhelmshaven in Niedersachsen, schwer mit dem Zug zu erreichen, das Auto ist dort eigentlich alternativlos. Vor diesem Jahr bin ich dort noch nie gewesen, in diesem Jahr aber dafür vier oder fünf Mal. Das erst Mal Anfang Mai. In der Nordsee, auf Höhe der Schleuse Hooksiel, direkt vor dem Steg des Chemieproduzenten Vynovia, setzten Mitarbeiter des Wasserbauers Depenbrock dort den ersten Rammschlag für jenen neuen Anleger, an dem jetzt, kurz vor Weihnachten, das erste schwimmende Flüssiggas-Terminal in Deutschland eröffnet wurde.
Der Weg zu Deutschlands erstem LNG-Terminal
27. Februar: Als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine und die Abhängigkeit von russischem Erdgas kündigt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner „Zeitenwende“-Rede den schnellen Bau von zwei LNG-Terminals in Deutschland an. Er nennt dabei die Standorte Brunsbüttel in Schleswig-Holstein und Wilhelmshaven in Niedersachsen.
14. März: Niedersachsens damaliger Energieminister Olaf Lies (SPD) kündigt nach einem Treffen der „Taskforce LNG Wilhelmshaven“ an, dass über ein geplantes Terminal in Wilhelmshaven noch vor dem Winter 2023 Flüssigerdgas importiert werden könnte.
8. April: Der Gastnetzbetreiber Open Grid Europe (OGE) erklärt, eine rund 26 Kilometer lange Anbindungs-Pipeline von einem noch zu bauenden LNG-Terminal bei Wilhelmshaven bis an den nächsten Anschluss an das Gas-Fernleitungsnetz im Landkreis Wittmund bauen zu wollen.
14. April: Die Bundesregierung gibt bekannt, für vier schwimmende LNG-Terminals in den kommenden zehn Jahren bis zu drei Milliarden Euro ausgeben zu wollen. Später folgen noch Pläne für ein weiteres staatlich organisiertes schwimmendes Terminal.
5. Mai: In Anwesenheit von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) werden mit dem ersten Rammschlag in Wilhelmshaven die Bauarbeiten für den Anleger des schwimmenden LNG-Terminals begonnen.
19. Mai: Der Bundestag beschließt ein Gesetz, um die Genehmigung von LNG-Terminals zu beschleunigen. Bestimmte Verfahrensschritte etwa bei der Umweltverträglichkeitsprüfung können so ausgelassen werden.
4. Juli: Das staatliche Gewerbeaufsichtsamt Oldenburg gibt dem Energiekonzern Uniper grünes Licht für den vorzeitigen Baustart für das LNG-Terminal in Wilhelmshaven.
19. Juli: Die Bundesregierung teilt mit, dass zwei Spezialschiffe als schwimmende Importterminals noch zum Jahreswechsel 2022/2023 für die Einsatzorte Wilhelmshaven und Brunsbüttel zur Verfügung stehen.
4. August: Die Bauarbeiten an der neuen Anbindungs-Pipeline beginnen.
12. August: Mehrere hundert Aktivisten der Gruppierung „Ende Gelände“ besetzen vor einem geplanten Besuch des niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) eine Terminal-Baustelle.
16. August: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck unterzeichnet eine Absichtserklärung mit Energieunternehmen, dass die Terminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel bis zum März 2024 „vollausgelastet“ Gas zur Verfügung gestellt bekommen.
15. November: Der Anleger für das LNG-Terminal ist fertiggestellt.
9. Dezember: Betreiber Uniper teilt mit, dass am 22. Dezember das erste Gas über das neue LNG-Terminal ins Erdgasnetz eingespeist werden soll.
12. Dezember: Das letzte Teilstück der neuen Anbindungs-Pipeline wird mit einer Schweißnaht an das Fern-Gasnetz angeschlossen.
15. Dezember: Das Spezialschiff „Höegh Esperanza“ und technisches Herzstück der Anlage trifft in Wilhelmshaven ein und macht am Anleger fest.
16. Dezember: Die zuständige Behörde in Niedersachsen gibt die letzte noch ausstehende wasserrechtliche Erlaubnis für den Betrieb des Terminals. Geregelt ist auch die Einleitung von chlorhaltigen Abwässern ins Meer. Umweltschutzverbände kritisieren das.
17. Dezember: Das Terminal in Wilhelmshaven wird als erstes deutsches Importterminal für Flüssigerdgas in Anwesenheit von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eröffnet.
Schon an jenem Tag im Mai war der Rummel in dem kleinen Ort gewaltig. Nicht nur Robert Habeck, der Wirtschafts- und Klimaminister war da, sondern auch der Chef des norwegischen Reeders Hoegh und der Reeder Prokopiou aus Griechenland, dazu Lokal- und Landespolitiker und die Chefs der beteiligten Unternehmen, allen voran Uniper-Chef Klaus-Dieter Maubach. Der Rammschlag war ein Startschuss für das Projekt schwimmendes LNG-Terminal, aber auch für Wilhelmshaven, jenen Ort, der seine beste Zeit als Energieknotenpunkt hinter sich zu haben schien.
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Seither bin ich immer wieder dort gewesen. Einmal, um den Projektleiter von Open Grid Europe (OGE) zu beobachten, der für den Bau der 26,3 Kilometer langen Gas-Pipeline von Wilhelmshaven nach Etzel verantwortlich war. Seine Zentrale hatte der auf dem ehemaligen Gelände des Schreibmaschinenherstellers Olympia im Nachbarort Roffhausen aufgeschlagen. Und dann bin ich hingefahren, um die Fortschritte beim Bau des Anlegers zu beobachten. Zuletzt war ich kurz vor Weihnachten dort, als die gesamte Regierungsspitze — Kanzler Olaf Scholz, Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner – auf dem Ausflugsschiff „MS Helgoland“ die Fertigstellung des LNG-Terminals feierten. Das war auch eine Art Weihnachtsbotschaft: Schaut auf diese Stadt!
Eine „Energiedrehscheibe 2.0“
Das im Hinblick auf Wilhelmshaven Spannende war, dass der Ort jetzt immer selbstbewusster ein Motto verkündet, das es vorher schon gab, dass aber nun an Wucht gewonnen hat. Man wolle, heißt es, „Energiedrehscheibe“ für Deutschland sein. Und nicht nur das, sondern das Ziel sei, „Energiedrehscheibe 2.0“ zu werden – also nicht nur für fossile Energien, sondern auch für grüne Energien, für grünes Ammoniak etwa, das man in Zukunft über Wilhelmshaven importieren könne, für grünen Wasserstoff. Es gibt jetzt verschiedene Projekte vor Ort, die genau das befördern sollen, immer mehr Ingenieure der Großkonzerne besuchen Wilhelmshaven. Schon im nächsten Jahr soll es ein zweites, schwimmendes LNG-Terminal geben. Zudem wird aus der Industrie darauf gedrungen, parallel Pipelines für den Transport von Wasserstoff anzulegen, der dann Richtung Westen in die Industriezentren transportiert werden würde. Wilhelmshaven könnte so tatsächlich zu einem neuen Zentrum in Deutschland werden. Und das scheint sich bereits in ganz praktischen Überlegungen niederzuschlagen. Ein Mitarbeiter eines Energieunternehmens erzählte mir, dass er nun ständig von Immobilienagenturen kontaktiert werde, die ihm Unterkünfte anböten – noch sei das verhältnismäßig günstig. Noch.