Energie-Zentrum Deutschlands Deshalb muss der Süden den Norden lieben lernen

Wer gewinnt das Duell, Nord- oder Süddeutschland? Quelle: Getty Images

Die Berge. Der Schnee. Laptop und Lederhos’n. Mit einem gewissen Hochmut blickt der Süden auf den platten Norden. Das muss sich ändern. Wilhelmshaven, Cuxhaven, Rostock – unser Energiereporter hat 2022 die Orte besucht, die für Deutschlands Zukunft entscheidend sind.

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Ich gebs zu. Ich stamme aus Bayern, und kenne daher jenen Ur-Stolz auf die Schönheit des Südens nur zu gut, gerade jetzt, im Winter. Wie sieht es denn auch aus, das idealtypische, deutsche Weihnachten, landschaftlich betrachtet? Da liegt ein Haus, gerne aus Holz, meterhoch zugeschneit, in einem Bergtal, Innen hell und warm erleuchtet. Es ist eine süddeutsche Weihnacht, die uns das vorschwebt, wie so vieles auch im Wirtschaftsleben idealtypisch süddeutsch zu sein scheint: Laptop und Lederhos’n, die IT-Landschaft in München, ob Microsoft oder Amazon, die Autobauer rund um Stuttgart, Mercedes oder Porsche. In den vergangenen Jahren, so scheint es, rutschte das unternehmerische Herz der Deutschen zunehmend aus dem Westen, wo die Sonne verstaubt, gen Süden, wo Markus Söder stolz mit Zukunftsfähigkeit prahlte.

Eine neue wirtschaftliche Geografie

Ich glaube aber, dass sich diese wirtschaftliche Geografie im vergangenen Jahr aufs Neue gewandelt, verschoben hat, Richtung Norden – und zwar sehr schnell und sehr gewaltig. Denn der Angriffskrieg Wladimir Putins auf die Ukraine im Februar hat den Deutschen mit einem Schlag deutlich gemacht, wie wichtig, aber gleichzeitig auch gefährdet, die eigene Energieversorgung ist, nicht nur von Haushalten, sondern auch von Unternehmen, der Industrie. Dadurch sind alte Zusammenhänge plötzlich ins Rampenlicht gerückt worden – und auch neue Orte. Wer hat sich denn, abgesehen von Profis, vor der Krise ernsthaft damit beschäftigt, welche Pipelines es aus Russland gibt, wie das Öl über die Röhren der Druschba-Pipeline in die so wichtige Raffinerie nach Schwedt gelangt? Wen hat die Sorge umgetrieben, dass Deutschland keine Flüssiggas-Importterminals hat? Und wer konnte nachts nicht schlafen, weil das Fehlen von Hochspannung-Gleichstrom-Übertragungs-Leitungen von Nord nach Süd zu riskanten Ungleichgewichten im deutschen Stromsystem führen kann?

Und interessanterweise sind es vor allem norddeutsche Orte, die eine zunehmende Rolle spielen, weil hier der Wind so kräftig weht, dass er sich ernten und in Strom verwandeln lässt, klar, aber auch, weil hier Schiffe anlanden können, die Energie bringen, die vorher durch die Pipelines aus dem Osten nach Deutschland strömten.

Fossile Energie aus Russland, Katar und Israel? Oder doch lieber aus Goldenstedt-Oythe, Dieksand und Mittelplate? Hier sehen Sie, welche Regionen in Deutschland bei der Förderung von Öl und Gas führend sind.
von Florian Güßgen

LNG-Zentrum Wilhelmshaven

Der wichtigste Ort ist wohl Wilhelmshaven in Niedersachsen, schwer mit dem Zug zu erreichen, das Auto ist dort eigentlich alternativlos. Vor diesem Jahr bin ich dort noch nie gewesen, in diesem Jahr aber dafür vier oder fünf Mal. Das erst Mal Anfang Mai. In der Nordsee, auf Höhe der Schleuse Hooksiel, direkt vor dem Steg des Chemieproduzenten Vynovia, setzten Mitarbeiter des Wasserbauers Depenbrock dort den ersten Rammschlag für jenen neuen Anleger, an dem jetzt, kurz vor Weihnachten, das erste schwimmende Flüssiggas-Terminal in Deutschland eröffnet wurde.

Der Weg zu Deutschlands erstem LNG-Terminal

Schon an jenem Tag im Mai war der Rummel in dem kleinen Ort gewaltig. Nicht nur Robert Habeck, der Wirtschafts- und Klimaminister war da, sondern auch der Chef des norwegischen Reeders Hoegh und der Reeder Prokopiou aus Griechenland, dazu Lokal- und Landespolitiker und die Chefs der beteiligten Unternehmen, allen voran Uniper-Chef Klaus-Dieter Maubach. Der Rammschlag war ein Startschuss für das Projekt schwimmendes LNG-Terminal, aber auch für Wilhelmshaven, jenen Ort, der seine beste Zeit als Energieknotenpunkt hinter sich zu haben schien.

Lesen Sie auch: Warum das LNG-Terminal in Wilhelmshaven ein Befreiungsschlag ist

Seither bin ich immer wieder dort gewesen. Einmal, um den Projektleiter von Open Grid Europe (OGE) zu beobachten, der für den Bau der 26,3 Kilometer langen Gas-Pipeline von Wilhelmshaven nach Etzel verantwortlich war. Seine Zentrale hatte der auf dem ehemaligen Gelände des Schreibmaschinenherstellers Olympia im Nachbarort Roffhausen aufgeschlagen. Und dann bin ich hingefahren, um die Fortschritte beim Bau des Anlegers zu beobachten. Zuletzt war ich kurz vor Weihnachten dort, als die gesamte Regierungsspitze — Kanzler Olaf Scholz, Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner – auf dem Ausflugsschiff „MS Helgoland“ die Fertigstellung des LNG-Terminals feierten. Das war auch eine Art Weihnachtsbotschaft: Schaut auf diese Stadt!

Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner stehen vor dem Spezialschiff Höegh Esperanza während der Eröffnung des LNG-Terminals in Wilhelmshaven. Quelle: AP

Eine „Energiedrehscheibe 2.0“

Das im Hinblick auf Wilhelmshaven Spannende war, dass der Ort jetzt immer selbstbewusster ein Motto verkündet, das es vorher schon gab, dass aber nun an Wucht gewonnen hat. Man wolle, heißt es, „Energiedrehscheibe“ für Deutschland sein. Und nicht nur das, sondern das Ziel sei, „Energiedrehscheibe 2.0“ zu werden – also nicht nur für fossile Energien, sondern auch für grüne Energien, für grünes Ammoniak etwa, das man in Zukunft über Wilhelmshaven importieren könne, für grünen Wasserstoff. Es gibt jetzt verschiedene Projekte vor Ort, die genau das befördern sollen, immer mehr Ingenieure der Großkonzerne besuchen Wilhelmshaven. Schon im nächsten Jahr soll es ein zweites, schwimmendes LNG-Terminal geben. Zudem wird aus der Industrie darauf gedrungen, parallel Pipelines für den Transport von Wasserstoff anzulegen, der dann Richtung Westen in die Industriezentren transportiert werden würde. Wilhelmshaven könnte so tatsächlich zu einem neuen Zentrum in Deutschland werden. Und das scheint sich bereits in ganz praktischen Überlegungen niederzuschlagen. Ein Mitarbeiter eines Energieunternehmens erzählte mir, dass er nun ständig von Immobilienagenturen kontaktiert werde, die ihm Unterkünfte anböten – noch sei das verhältnismäßig günstig. Noch.

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