Es vergeht derzeit kein Tag, an dem die großen Energiekonzerne nicht im Mittelpunkt stehen. Auf EnBW, den Riesen aus dem Süden, richteten sich Anfang der Woche die Blicke zuerst in der Atomfrage. Konkret: Kann das Kernkraftwerk Neckarwestheim in den Stand-by-Modus gehen, so wie Wirtschaftsminister Robert Habeck das vorschwebt, ? Kurz davor waren EnBW und der scheidende Chef Frank Mastiaux in der Kritik, weil die Leipziger Gas-Tochter VNG die Gas-Umlage in Anspruch nehmen will, während der Mutterkonzern gleichzeitig an seiner Gewinnprognose für das Jahr 2022 festhält. Etwa drei Milliarden Euro Ergebnis einstecken und gleichzeitig bei Verbrauchern kassieren. Geht’s noch?
Offenbar geht es nicht. Denn heute Morgen hat EnBW mitgeteilt, dass die VNG Staatshilfe nach Paragraf 29 des Energiesicherungsgesetzes (EnSig) beantragen werde. Das mehrfach modifizierte Gesetz ist mittlerweile so etwas wie die im steten Wandel begriffene Bibel der Gasrettung – mit einem immer präziseren Gebotskatalog, was denn nun wann zu tun ist: Paragraf 24 formuliert die krasseste Form. Sie sieht vor, dass Unternehmen ihre Verluste sofort und direkt an ihre Kunden weitergeben können. Das will niemand. Paragraf 26, das ist die Gas-Umlage. Mit dieser werden die hohen Verluste bei der Beschaffung auf alle Gaskunden umgelegt. Und Paragraf 29, das ist die Regierungs-Rettungs-Variante. Ihr zufolge muss die Bundesregierung eingreifen, mit Krediten der Förderbank KfW etwa oder sogar mit einem Staatseinstieg. Die Regelung ist für Unternehmen der kritischen Struktur im Bereich Energie gedacht, und war auch die Grundlage für die Rettung des Düsseldorfer Gas-Importeurs Uniper Ende Juli. Manche sahen in Paragraf 29 eine reine „Lex Uniper“. Jetzt wird es auch eine Lex VNG.
Versorger für „400 Stadtwerke und Industriebetriebe“
Denn genau diese Staatshilfen fordert die VNG jetzt ein. Nach eigenen Angaben ist die VNG der drittgrößte deutsche Gasimporteur, systemrelevant für die Versorgungssicherheit in Deutschland und „strukturrelevant für Sachsen und Ostdeutschland“. Die Gruppe versorge 400 Stadtwerke, Unternehmen und Industriebetriebe, 2021 habe sie rund 20 Prozent des deutschen Gasbedarfs geliefert. „Um weiteren Schaden abzuwenden und die Handlungsfähigkeit des VNG-Konzerns insgesamt zu sichern“, heißt es in der Presseerklärung, die am Freitagmorgen zusätzlich zu einer Ad-Hoc-Meldung veröffentlicht wurde, sehe sich die VNG veranlasst neben der bereits beantragten Gasumlage um „weitere Hilfsmaßnahmen zu bitten.“
Der Mechanismus, der die Not schafft, ist mittlerweile bekannt: Fallen vertraglich vereinbarte Lieferungen aus Russland, vor allem von Gazprom Export aus, müssen Importeure das Gas am Spotmarkt oder am Terminmarkt beschaffen. Die Preise dort sind vor knapp zwei Wochen explodiert, am niederländischen Handelspunkt TTF zeitweilig auf 340 Euro für die Megawattstunde Gas. Allerdings ist der Preis mittlerweile wieder gesunken, trotz des kompletten Lieferstopps über die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1. Die VNG schreibt, ursächliche für den jetzigen Schritt „ist die notwendige Ersatzbeschaffung. Von russischen Lieferausfällen betroffene Gasmengen mit teilweise fest vereinbarten Preisen müssen nun zu massiv höheren Preisen an den Handelsmärkten nachgekauft werden.“
Ein kleiner und ein großer Vertrag
Dabei schlüsselt die VNG auch auf, welche Import-Verträge sie wie in die Bredouille bringen. Konkret seien zwei Verträge, von russischen Lieferausfällen betroffen. Mit Gazprom Export bestehe ein Liefervertrag mit einem vereinbarten Bezug von 35 Terawattstunden im Jahr. Der werde „aktuell und absehbar“ nicht mehr bedient, laufe aber Ende des Jahres aus. Selbst die Entlastung über die Gasumlage ab Anfang Oktober würde hier zu rund einer Milliarde Euro Verlust führen. Das könnte die VNG „aus eigener Kraft“ und mit „weiteren Stabilisierungsmaßnahmen ihrer Anteilseigner“ – gemeint sein dürfte die EnBW – noch stemmen. Die EnBW hat die VNG in den vergangenen Wochen laut Pressemitteilung mit Bürgschaften und Kreditlinien in „hoher dreistelliger Millionenhöhe“ unterstützt.
2,4 Cent: Umlage trifft alle Gaskunden
2,419 Cent pro Kilowattstunde werden vom 1. Oktober an als Aufschlag auf den ohnehin drastisch gestiegenen Gaspreis fällig. Die Bundesregierung will keine Mehrwertsteuer darauf erheben: Finanzminister Christian Lindner hatte auf EU-Ebene um eine Ausnahme gebeten, diese wurde aber abgelehnt. Viele Menschen sind betroffen, denn etwa die Hälfte aller Wohnungen in Deutschland wird mit Gas beheizt.
Für einen Einpersonenhaushalt mit einem Jahresverbrauch von 5000 Kilowattstunden bedeutet die Umlage ohne Mehrwertsteuer jährliche Zusatzkosten von rund 121 Euro. Mit wären es rund 144 Euro. Für einen Familienhaushalt mit einem Jahresverbrauch von 20 000 Kilowattstunden liegen die Mehrkosten bei rund 484 Euro im Jahr. Kommt die Mehrwertsteuer hinzu, sind es 576 Euro.
Die Umlage gilt ab Anfang Oktober. Sie werde aber nicht unmittelbar auf den Rechnungen sichtbar, sondern mit etwas Zeitverzug, so das Wirtschaftsministerium. Ankündigungsfristen von vier bis sechs Wochen müssten eingehalten werden. Daher werde die Umlage wahrscheinlich erst im November oder Dezember erstmals auf den Rechnungen ausgewiesen. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft rechnet allerdings damit, dass einige Versorger die Umlage schon ab dem 1. Oktober ihren Kunden in Rechnung stellen werden.
Die Umlage endet am 1. April 2024. Sie wird laut Wirtschaftsministerium monatlich abgerechnet und kann alle drei Monate angepasst werden. Die Ausgleichszahlungen bekommen die Importeure nur unter bestimmten Bedingungen. Abgerechnet werden können 90 Prozent der Mehrkosten. Noch bis Ende September müssen die Unternehmen alle Mehrkosten selbst tragen. Sollte Russland gar kein Gas mehr liefern, hält Habeck es für wahrscheinlich, dass die Umlage steigt.
Den Firmen, die in der Vergangenheit günstiges russisches Erdgas nach Deutschland importiert haben. Sie bekommen noch einen Bruchteil der vertraglich zugesicherten Liefermengen. Gleichzeitig haben sie ihren Abnehmern wie Stadtwerken genau dieses Gas versprochen. Um die Versorgung aufrechtzuerhalten, müssen sie kurzfristig Gas an der Börse teuer hinzukaufen. Die Folge: Bei den Importeuren sind erhebliche Verluste entstanden. Der Fortbestand der Unternehmen kann gefährdet sein. Beim größten Gasimporteur Uniper war die Lage so dramatisch, dass noch vor Einführung der Umlage ein milliardenschweres Rettungspaket nötig wurde. Habeck bezeichnete die Umlage als eine „bittere Medizin“. Die Alternative zu den Hilfsmaßnahmen wäre ein Zusammenbruch des deutschen Energiemarktes gewesen.
Russland macht technische Gründe dafür verantwortlich. Die Bundesregierung hält dies für vorgeschoben. Habeck sprach am Montag von einer „von russischer Seite verursachten künstlichen Energieknappheit“ im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Bundeskanzler Olaf Scholz sicherte den Bürgern erneut ein weiteres Entlastungspaket zu. „Wir lassen niemanden allein mit den höheren Kosten“, schrieb der SPD-Politiker auf Twitter und räumte gleichzeitig ein: „Es wird teurer – da gibt es kein drumherumreden. Die Energiepreise steigen weiter.“ Bisher seien schon staatliche Hilfen über 30 Milliarden Euro beschlossen worden. Habeck sagte, die Bundesregierung habe sich schon auf erste Schritte wie eine Ausweitung des Wohngeldes mit einem Heizkostenzuschuss verständigt. „Ich meine aber, dass weitere zielgenaue Entlastungen nötig sind. In dieser Krise müssen wir den demokratischen Konsens sozialpolitisch absichern.“
Zwölf Gasimporteure haben ihre Ersatzbeschaffungskosten angemeldet. Darunter sind Uniper, VNG und EWE. RWE und Shell wollen auf eine Kostenerstattung verzichten. Insgesamt haben die zwölf Unternehmen bis Anfang April 2024 zunächst rund 34 Milliarden Euro geltend gemacht, teilweise aufgrund von Schätzungen. Wirtschaftsprüfer und die Bundesnetzagentur sollen darauf achten, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
Das ist noch nicht ganz klar und wird geprüft. Gegebenenfalls wird es noch Gesetzesänderungen geben. Habeck wies darauf hin, dass es auch viele Festverträge mit einer Preisanpassungsmöglichkeit für staatliche Abgaben gibt.
Neben der Beschaffungsumlage kommt im Herbst noch eine Gasspeicherumlage. Diese soll die Kosten ersetzen, die für die Extra-Einspeicherung von Erdgas zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit im Winter entstehen. Das Wirtschaftsministerium geht aber nicht davon aus, dass diese Umlage eine „relevante Größe“ erreichen wird.
Die Gasumlage wird nach Ansicht von Ökonomen zu einer Steigerung der Inflationsrate führen. So hält das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung eine Inflationsrate im vierten Quartal um die zehn Prozent für möglich. Experten der Commerzbank gehen von einer Steigerung der Teuerung bis Jahresende auf deutlich über neun Prozent aus.
Aber es gebe noch einen weiteren Vertrag über 65 Terawattstunden im Jahr mit einem „inländischen Vorlieferanten“, der Importeur der entsprechenden Gasmengen ist. Wer das ist, wird nicht weiter ausgeführt. Dabei dürfte es sich um einen Vertrag mit dem Wintershall Erdgas Handelshaus (WIEH) handeln, eine Tochter der früheren Gazprom Germania, die sich nun in Treuhandschaft der Bundesnetzagentur befindet und jetzt Securing Energy for Europe (SEFE) heißt. Dazu hatte EnBW-Chef Frank Mastiaux noch im Juli im WiWo-Podcast „Chefgespräch“ gesagt, ein Teil der Gasversorgung der VNG laufe über einen Vertrag mit der „sogenannten WIEH, das ist eine Firma, die in der Treuhandschaft des Bundes steht, ehemals Gazprom Germania. Das ist nicht so ein klassischer Lieferweg. Also kein klassischer Importvertrag.“ Mastiaux sprach auch über den kleineren Vertrag direkt mit Gazprom Export. Alles in allem kam er damals zu dem Schluss: „Wenn man das alles zusammennimmt und die Finanzmittelsituation der VNG sich anguckt, dann ergibt sich daraus keine unmittelbare Bestandsgefährdung.“
Die VNG erhöht den Druck
Diese Einschätzung hat sich nun geändert. Der große Vertrag über 65 Terawattstunden werde seit Mai nicht mehr „durchgängig bedient“. Und weiter: „Die Kosten der Ersatzbeschaffung hat VNG im August bei historisch hohen Gaspreisen anders als zuvor erwartet zu erheblichen Teilen tragen müssen.“ Nun habe man „mit Hilfe der Bundesregierung“ in den vergangenen Wochen versucht, eine „abschließende Einigung herbeizuführen“. Konkret dürfte das bedeuten, dass die SEFE-Treuhänder, also indirekt über die Bundesnetzagentur die Bundesregierung selbst, mit der VNG darüber uneins waren und sind, wer die Kosten der Ersatzbeschaffung trägt. Eine Einigung erscheine jedoch „kurzfristig und für VNG wirtschaftlich tragfähig nicht erreichbar“, heißt es in der Pressemitteilung. „Die daraus absehbare finanzielle Belastung wäre für VNG nicht tragbar.“ Deshalb stelle man nun den Antrag und wolle die Gespräche mit der Bundesregierung fortsetzen. „VNG und EnBW setzen hier unverändert auf eine konstruktive und einvernehmliche Lösung.“ Übersetzt bedeutet das: Die VNG erhöht den Druck und geht an die Öffentlichkeit.
Im Halbjahresabschluss der EnBW haben sich die Verluste der VNG bisher mit rund 550 Millionen Euro niedergeschlagen. Wegen der im August ausbleibenden Lieferungen und der gestiegenen Preise für das „in der Konsequenz zu weiter auflaufenden Verlusten bei der VNG“.
Nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa hat das zuständige Ministerium für Wirtschaft und Klima am Vormittag bestätigt, dass der Antrag der VNG auf Staatshilfe eingegangen ist.
Der Versorger EnBW gehört mit einem Aktienanteil von knapp 47 Prozent dem Land Baden-Württemberg und mit einem Anteil von knapp 47 Prozent dem Zweckverband Oberschwäbische Elektrizitätswerke, Kommunen. EnBW hält Anteile in Höhe von 74,21 Prozent an der VNG.
Hören Sie hier, wie der scheidende EnBW-Chef Frank Mastiaux im Podcast „Chefgespräch“ im Juli die Lage der VNG beschrieb.