Ob Wirtschaft oder Arbeitsmarkt – Deutschlands Süden gilt als erfolgsverwöhnt. Doch Bayern und Baden-Württemberg hinken beim Ausbau der erneuerbaren Energien hinterher. Zukunftsträchtige Unternehmen strafen die Versäumnisse ab, indem sie sich in anderen Teilen Deutschlands ansiedeln. Tesla hat sein neues Werk in Brandenburg eröffnet. Der US-Chiphersteller Intel und das Batterie-Startup Northvolt errichten ihre neuen Fabriken in Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein.
Laut Claudia Kemfert werden den Beispielen weitere folgen, wenn der Süden beim Ausbau der Windkraft nicht schnell aufholt. Kemfert ist Leiterin der Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und Professorin für Energiewirtschaft an der Leuphana Universität Lüneburg.
WirtschaftsWoche: Frau Professor Kemfert, Bayern und Baden-Württemberg hinken nach Ansicht von Kritikern beim Ausbau der Windkraft zurück. Hat der Süden die Energiewende verpasst?
Claudia Kemfert: Zumindest wurde dort bisher zu wenig für die Energiewende getan. Der Norden ist dem Süden voraus. Alle Bundesländer müssen jetzt an einem Strang ziehen, es darf sich keiner verweigern. Bayern und Nordrhein-Westfalen etwa haben den Ausbau der Windenergie mit den Abstandsregeln beinahe zum Erliegen gebracht. Wir brauchen nun klare, einheitliche Rahmenbedingungen. Das Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien muss vervierfacht werden. Wir brauchen Solarenergie auf allen Dächern, Biomasse überall, wo es geht, und Windanlagen auch im Süden. Dafür muss jedes Bundesland zwei Prozent der Flächen bereitstellen.
Bis 2045 sollen in Nord- und Ostsee Windräder mit einer Leistung von 70 Gigawatt aufgestellt werden. Gerät Süddeutschland bei der Energieversorgung in eine Abhängigkeit vom Norden?
Nur wenn der Süden nicht schnell aufholt und selbst Windenergie ausbaut. Energietransport kostet Geld. Die nördlichen Bundesländer sind im Zeitplan. Wir brauchen eine dezentrale Energiewende, und es ist wichtig, dass man sich nicht zu sehr abhängig macht von anderen Bundesländern oder gar anderen Staaten, sondern die Potenziale vor Ort nutzt. Das senkt Kosten, erhöht den Standortvorteil, sichert die Versorgungssicherheit und stärkt sogar die Demokratie. Neue Studien belegen, dass die Akzeptanz von Windparks und Solaranlagen steigt, wenn die Menschen selbst an der Energiewende beteiligt sind.
Kann man davon ausgehen, dass die Preise für erneuerbare Energien im Süden Deutschlands steigen, wenn beim Ausbau der Windenergie nicht schnell aufgeholt wird?
Das lässt sich nicht ausschließen. Wird die Energiewende weiter ausgebremst, steigen die Kosten. Wenn hingegen die Importe vermindert werden, sinken die Kosten. Falls der Süden bei der Energiewende nicht aufholt, kann das aber noch ganz andere wirtschaftliche Folgen haben: Dann heißt es vielleicht irgendwann nicht mehr die Bayerischen Motorenwerke, sondern die Bremer Motorenwerke. Die Versorgung mit erneuerbaren Energie ist mittlerweile ein wichtiger Standortfaktor – und er wird immer wichtiger. Gerade wenn es darum geht, wo sich zukunftsweisende Unternehmen ansiedeln. Das zeigt das Beispiel Tesla. Das Unternehmen hat sich auch deshalb für Brandenburg entschieden, weil der Ökostromanteil dort so hoch ist.
Man kann also davon ausgehen, dass andere Firmen dem Beispiel Tesla folgen werden?
Ja, weil die Energiekosten neben anderen Faktoren durchaus eine wichtige Rolle spielen. Der Ökostrom, der direkt vor Ort produziert wird, ist günstig. Der Norden hat zudem noch den Vorteil, Windenergie auch zur Herstellung von grünem Wasserstoff oder durch Import direkt vor Ort nutzen zu können. Die aktuelle Energiekrise zeigt, wie teuer importierte fossile Energien sein können, weil sie mit geostrategischen Interessen verbunden sind. Direkt vor Ort erzeugte erneuerbare Energie ist sicher und stärkt die Wertschöpfung vor Ort.
Transparenzhinweis: Dieses Interview wurde im April 2022 geführt und veröffentlicht. Wir zeigen es aufgrund des hohen Leserinteresses erneut.
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