Seit vielen, vielen Jahren ist der Juni ein ganz besonderer Monat für alle Händler und Spekulanten, Wissenschaftler, Politiker und Journalisten, die sich für die internationalen Energiemärkte interessieren. BP, einer der ganz großen Spieler am Öl- und Gasmarkt, veröffentlicht seine “Statistical Review of World Energy“. 2014 ist der unglaubliche 63. Jahrgang der Publikation.
Nach all unseren Erfahrungen sind die Tausenden von Daten über fast alle Länder des Globus, über Verkauf, Verbrauch und Förderung von Kohle, Gas, Atomstrom, Erdöl und erneuerbaren Energien zuverlässig. An Versuchen, den von BP ja immerhin bezahlten Forschern und Schreibern irgendwelche Manipulationen nachzuweisen, hat es seit Jahrzehnten nicht gefehlt. Die Versuche sind regelmäßig gescheitert – kein Grund also, der vor ein paar Tagen auf einer Konferenz in Moskau vorgestellten Publikation nicht zu trauen.
Oder?
Wir haben keinen Grund zum Misstrauen gegen Christof Rühl, Chefvolkswirt der BP Group und wichtigster Präsentator der „Statistical Review“. Und was das Erdöl angeht – für BP nach wie vor der mit Abstand wichtigste Energierohstoff – kann man nichts Besseres tun, als aus seiner Zusammenfassung andächtig zu zitieren: „In den vergangenen drei Jahren waren die Ölpreise hoch, aber bemerkenswert stabil. 2013 gingen sie leicht zurück, Terminkontrakte auf die Ölsorte Brent kosteten durchschnittlich knapp 109 Dollar, drei Dollar unter dem Mittelwert von 2011 und 2012. Damit hatten wir das dritte Jahr hintereinander mit Preisen von mehr als 100 Dollar. Das gab es sowohl real als auch noch nominal vorher noch nie; gleichzeitig war das der Dreijahreszeitraum mit der geringsten Preisvolatilität seit 1970. Diese Preisstabilität täuscht aber über scharfe Veränderungen im Gleichgewicht von Verbrauch und Produktion hinweg: 2013 übertraf der weltweite Verbrauch ganz deutlich die Förderung - das genaue Gegenteil der Lage von 2012. Im Ergebnis sanken die Erdölvorräte.“
Die Daten sind überzeugend – und man muss kein großer Experte sein, um daraus abzuleiten, dass es so nicht mehr lange weiter gehen kann. Entweder der Weltverbrauch sinkt – wahrscheinlich nur im Fall einer Rezession – oder die Förderungszahlen steigen – möglich nur bei politischer Ruhe von Russland über den Iran bis Libyen und Nigeria – oder aber die Preise steigen. BP, das darf man sicher anfügen, kann das eigentlich nur Recht sein. Es stimmt aber auf jeden Fall.
Keine schrumpfenden Erdölreserven
Viel unsicherer erscheint dem außenstehenden Beobachter die Triftigkeit einer Erkenntnis, die BP mit noch mehr Nachdruck verkündet: Das Erdöl der Welt wird nicht knapp, das Erdölzeitalter hat also vielleicht gerade erst angefangen. Rühl begann seine Moskauer Präsentation mit einem Vergleich der globalen Energiesituation v0n 2013 mit der zehn Jahre zuvor, also 2003. Mit seinen eigenen Worten: „Ein unveränderter Trend ist das Wachstum der Vorkommen (auf Englisch: „reserves growth“).
Das war schon immer eine unserer häufiger zitierten Statistiken, aber die Aussage, es gebe mehr nachgewiesene Vorkommen als im Vorjahr, und das nach wieder einem Jahr mit starkem Wachstum des Verbrauchs von Öl, Gas und Kohle – diese Aussage traf früher auf viel mehr Unglaube als heute. Aber das Wachstum hat tatsächlich stattgefunden: Die nachgewiesenen Öl- und Erdgasvorkommen haben allein in den vergangenen Jahren um 27 beziehungsweise 19 Prozent zugenommen, und das trotz eines Wachstums der Produktion von elf beziehungsweise 29 Prozent.“
It was always one of our more popular statistics, but saying that proved reserves had increased, after yet another year of rapid oil, gas and coal consumption growth, created a lot more disbelief then than now. But increase they did: Proved oil and gas reserves are up 27% and 19%, respectively, over the last ten years alone – despite production growth of 11% and 29%”.
Aber wie zuverlässig sind diese für alle Prognosen der weiteren Entwicklung so wichtigen Daten? Wir schauen ganz einfach auf die von BP erhobenen Daten der nachgewiesenen und wirtschaftlich nutzbaren Erdölreserven in den wichtigen Förderländern für 2012 und 2013, jeweils zum Jahresende. Und was wir lesen, ist auf den ersten Blick langweilig, auf den zweiten Blick sehr erstaunlich. Alle Länder der Welt zusammen verfügten demzufolge Ende 2012 über Vorkommen von 1,6873 Billionen Barrel Öl, Ende 2013 über 1,6879 Barrel – eine im globalen Maßstab eigentlich winzige Fortsetzung des von Rühl für die vergangenen zehn Jahre herausgestrichenen Trends.
Fast nirgendwo hat sich demnach 2013 das nutzbare Erdöl im Boden reduziert. 500 Millionen für Norwegen sind das stärkste einzelstaatliche Minus. Irgendwie weiß ja jeder, dass es mit dem Nordseeöl zu Ende geht. Aber wie zum Trost verzeichnet Großbritannien plus oder minus Null bei seinen Reserven, genau wie unter den großen Förderländern die USA und Kanada mit ihren erheblichen Produktionssteigerungen, Saudi-Arabien, der Iran und Libyen mit ihren gegenüber 2012 deutlich rückläufigen Produktionszahlen. Man muss sich also vorstellen, dass auch die unter dem internationalen Sanktionsregime zusammenbrechende iranische Ölwirtschaft und die wegen des politischen Chaos zum Fördern von Öl kaum noch fähigen Unternehmen in Libyen ihre Geologen und Ingenieure zum Aufspüren neuer Vorkommen durchs Land schickten – und zwar haargenau in dem Ausmaß, dass die neu nachgewiesenen Ölvorräte so groß waren wie die Fördermenge.
265,9 Milliarden Barrel in Saudi-Arabien, 150,0 Milliarden im Irak, 97,8 in den Emiraten und so weiter und so weiter – in sämtlichen arabischen und afrikanischen änderte sich absolut nichts an den vorhandenen Reserven, wenn wir der BP-Review glauben wollen. Doch, eine Ausnahme gibt es: Im notorisch um seinen Ruf als ehrliches Land bemühten Katar sanken die nachgewiesenen und nutzbaren Ölreserven im Laufe des vergangenen Jahres von 25,2 auf 25,1 Milliarden Barrel. Ansonsten scheint ein geradezu ein Naturgesetz zu garantieren, dass in von Staatsfirmen dominierten Erdölstaaten jedes Jahr haargenau so viel neues Erdöl gefunden wie produziert wird.
Sollen wir das glauben? Glaubt das BP selber?