Europäische Gaskrise verschärft sich RWE liefert Gas nach Marokko. Darf das sein?

Medgaz-Pipeline: Spanien importiert Gas aus Algerien. Quelle: REUTERS

Die europäischen Energieminister treffen sich in Brüssel, um über Solidarität in Zeiten der Gaskrise zu debattieren. Zur gleichen Zeit gibt es Kritik an Gaslieferungen von RWE über Spanien nach Marokko. Was ist da los?

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Die Kritik ließ nur ein paar Wochen auf sich warten. Der Energiekonzern RWE aus Essen schickt seit Anfang Juli aus den USA importiertes Flüssiggas, das in einem LNG-Terminal in Spanien regasifiziert wird, über eine Pipeline durchs Mittelmeer nach Marokko. Nun melden sich Medien in Spanien mit scharfen Äußerungen zu Wort: RWE „rettet“ die marokkanische Regierung, während europäische Haushalte angesichts der Gaskrise „mit Unsicherheit leben“, schreibt das spanische Online-Medium Diario16. Der deutsche Stromkonzern nutze die Gaspipeline „als Tor nach Marokko“, so „El Economista“. Und die Onlineseite „Merca2“ berichtet: RWE sichere dem alawitischen Königshaus einen „Luxus, den die europäischen Bürger nicht genießen können“.

Der Ton für das Energieministertreffen in Brüssel an diesem Dienstag ist gesetzt. Die EU will über einen Gas-Notfallplan beraten und abstimmen lassen. Der sieht vor, dass jeder EU-Staat bis zum kommenden März 15 Prozent des durchschnittlichen Gasverbrauchs der vergangenen Jahre einsparen soll – und dazu verpflichtet werden kann. Dem Plan müssten 15 EU-Staaten, die wiederum 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, zustimmen. Eine Mehrheit ist aber nicht sicher. Und plötzlich befindet sich RWE mitten in der Debatte um europäische Energiesouveränität, Solidarität der Mitgliedsländer und die Sparmaßnahmen der Regierungen gegen einen kalten Winter wieder.

Die Gaslieferung von RWE nach Marokko ist eine Folge des seit Jahren schwelenden Konflikts zwischen Marokko und Algerien um die Gebietsansprüche in der Westsahara. Der Streit hatte im vergangenen Jahr dazu geführt, dass Algerien seine Gaslieferungen nach Marokko aussetzte. Marokko sah sich deshalb gezwungen, nach neuen Beschaffungswegen zu suchen. Bei RWE hat Marokkos Regierung offenbar Flüssiggas aus den USA bestellt. Da Marokko selbst über kein LNG-Terminal verfügt, lässt es das LNG in Spanien regasifizieren und über die Pipeline transportieren.

Aber wäre das Erdgas nicht besser auf dem europäischen Kontinent aufgehoben? Russland hat seine Gaslieferungen über die Pipeline Nord Stream 1 gerade weiter reduziert. Inzwischen fließt nur noch 20 Prozent der üblichen Menge durchs Rohr. Um einen kalten Winter zu vermeiden, ist nicht nur Deutschland gezwungen zu sparen – und alle möglichen Quellen anzuzapfen, um die Gasspeicher bis Herbst und Winter zu füllen.

Der Füllstand der Gasspeicher in der EU beträgt derzeit im Schnitt rund 66 Prozent. In Ländern wie Deutschland, Italien und Kroatien gilt die Lage als besonders heikel. Zusätzliches Gas – woher auch immer – würde den Ländern helfen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen appellierte daher: Es sei wichtig, „dass alle Mitgliedstaaten die Nachfrage drosseln, dass alle mehr speichern und mit denjenigen Mitgliedern teilen, die stärker betroffen sind“. Energiesolidarität sei ein Grundprinzip der europäischen Verträge.

Mit allzu viel Solidarität sollte die EU aber kaum rechnen. Die spanische Umweltministerin Teresa Ribera hatte bereits vor Tagen klargestellt, dass ihr Land nicht bereit sei, Industrie und Haushalte zu Gaseinsparungen aufzufordern wie von der EU-Kommission angekündigt. Das Land würde derzeit bereits 20 Prozent seines importierten Gases weiter nach Europa exportieren. Das müsse reichen. RWE lässt erklären, dass kaum noch mehr Erdgas aus Spanien nach Mitteleuropa gepumpt werden könne. Es gebe nur „eine sehr kleine“ Pipeline von Spanien nach Frankreich – und die werde „voll genutzt.“ Das LNG-Gas aus den USA, das derzeit an den sieben LNG-Terminals in Spanien und Portugal anlandet, sei daher als Extramenge für die Gasspeicher in Europa kaum nutzbar. Die anderen LNG-Terminals in Europa arbeiteten „an ihrer Kapazitätsgrenze“.

Mit anderen Worten: LNG-Gas, das an der iberischen Halbinsel zusätzlich ankomme, sei vor allem geeignet für den Eigenbedarf – oder für den Export nach Marokko. Den konkreten Deal mit Marokko will Energiekonzern nicht kommentieren. Zu Einzelverträgen nehme RWE grundsätzlich keine Stellung.

Die Westsahara-Frage

Der Deal zwischen RWE und Marokko ist jedenfalls möglich geworden, weil die Regierung in Madrid ihre Nordafrika-Politik grundlegend geändert hat. Im Frühjahr 2022 schwenkte sie bei der Westsahara-Frage um. In der an Algerien, Mauretanien und Marokko grenzenden Westsahara kämpft die Polisario-Bewegung für einen eigenen Staat. Sie wird von den auf wichtigen Gasreserven sitzenden Algeriern gestützt. Die Marokkaner stufen diese jedoch als terroristisch ein. Viele Jahre forderten internationale Staaten ein Referendum in der Westsahara. Inzwischen unterstützt Madrid die Position Marokkos, was Algerien offenbar verärgert hat.

Für den diplomatischen Strategieschwenk in Madrid gibt es mehrere Gründe. Vor allem will die spanische Regierung ihre diplomatischen Beziehungen zu Marokko festigen. Ziel ist es, den Strom von Migranten über die Meeresenge von Gibraltar zu stoppen und die europäische Wasserstoff-Strategie verwirklichen zu können. Marokko könnte ein bedeutender Lieferant von mit Solar- und Windkraft erzeugten grünen Wasserstoff werden, so die Hoffnung in Spanien und anderen EU-Staaten.

Marokko und Algerien kämpfen seit jeher mit harten Bandagen um die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft im Maghreb, was sich jetzt in der Energiekrise widerspiegelt. „Spaniens Änderung in der Westsahara-Frage aufgrund von Energieproblemen in Europa war ein gefährliches Kalkül,“ sagt der spanische Maghreb-Experte Ignacio Cembrero. Immerhin deckt Algerien rund 23 Prozent des spanischen Gasbedarfs und bis die grüne Wasserstoff-Produktion in Marokko anläuft, dürfte noch Zeit vergehen. Es wurden auch von deutscher Seite diplomatische Offensiven in Algerien gestartet, um die Gaslieferungen zu erhöhen. Allerdings konnte nur Italien, das sich in der Westsahara-Frage nicht geäußert hatte, bisher seine Lieferkapazitäten erhöhen.

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Algerien hat seine kommerziellen Beziehungen mit Spanien inzwischen eingeschränkt. Bislang lieferte Algerien Gas über zwei Pipelines nach Spanien – eine direkte Verbindung durchs Mittelmeer und eine indirekte über Marokko. 2021 wurde die Pipeline über Marokko nach Südspanien jedoch stillgelegt. Algerien und Marokko konnten sich nicht über neue Konditionen einigen, nachdem der Transitvertrag ausgelaufen war. Bis dahin durfte sich Marokko Gas aus Algerien als Bezahlung für den Transit abzwacken. Seit Ende 2021 stand die Pipeline dann leer. Marokko musste nun neues Gas bestellen. Die ungenutzte Pipeline macht es nun möglich, Gas aus Spanien zu importieren.

Die Lieferung von Flüssiggas über Spanien an Marokko ist insofern politisch heikel, als dass Spanien sich gemeinsam mit Portugal vehement gegen einen Vorschlag der EU-Kommission ausgesprochen hatte, den Verbrauch im Fall eines Gasnotstands um 15 Prozent zu reduzieren. Die spanische Umweltministerin Ribera erklärte ihre Ablehnung mit den Worten: „Wir können doch keine Opfer bringen, zu denen wir nicht gefragt worden sind“. Im Gegensatz zu anderen Ländern, so die Ministerin, „haben wir Spanier in Sachen Energieverbrauch nicht über unsere Verhältnisse gelebt“. Das wurde in Brüssel als klare Spitze gegen Deutschland verstanden. In Berlin sorgt es deshalb für Stirnrunzeln, dass Spanien einerseits nicht zum Sparen aus europäischer Solidarität bereit sei, andererseits aber das knappe LNG-Gas an Marokko verkaufe.

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Auch vor dem Hintergrund der angekündigten Drosselung der Gaszufuhr über die Pipeline Nord-Stream 1 erwartet man im Bundeswirtschaftsministerium, „dass alle dazu beitragen, die benötigte Gasmenge zu erreichen“, so ein leitender Beamter. Dazu seien auch die deutschen Energieunternehmen aufgefordert.

Lesen Sie auch: Was, wenn Putin uns das Gas doch noch abdreht? Dann sollen schwimmende LNG-Terminals Deutschland retten. Ein Problem: Um den Gashafen in Wilhelmshaven mit dem Rest der Republik zu verbinden, braucht es eine Pipeline, 26 Kilometer, bis Ende des Jahres. Franz-Josef Kißing baut sie – in einem Wettlauf mit der Zeit.

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