Wenn etwas ganz wichtig ist, dann wird’s minutengenau verkündet. Und so wundert es nicht, dass die russische Staatsagentur TASS am Freitag minutengenau verkündete, wann die heiß umkämpfte Ostseepipeline Nord Stream 2 fertiggestellt worden ist: Heute, um 8.45 Uhr Moskauer Zeit nämlich. Und der, der das mitteilte, war auch kein Geringerer als Alexej Miller, der Gazprom-Chef höchstpersönlich.
Denn für Gazprom und für den Kreml ist das heute ein Feiertag mit klaren Botschaften Richtung Europa. Niemand hält uns auf, lautet der erste Teil der Triumphbotschaft, gerichtet an alle Pipeline-Gegner in den USA, in Brüssel, aber auch etwa in der Parteizentrale der Grünen in Berlin. Und der zweite Teil dieser Botschaft lautet, nicht weniger triumphierend: Daran wird sich auch in naher Zukunft nichts ändern. Dafür haben wir gesorgt. Denn Gazprom ist, durch Strategie und Zufall, tatsächlich so positioniert, dass alle, die die umstrittene Pipeline nun immer noch verhindern wollen, es in den nächsten Monaten schwer haben dürften.
Im Kern geht es jetzt um drei Hürden, die der Nord Stream AG mit Verwaltungsratschef Gerhard Schröder im Aufsichtsrat noch Probleme bereiten können: Die erste Hürde ist das so genannte Zertifizierungsverfahren. Die Zertifizierung muss von der Bundesnetzagentur, durchgeführt werden. Die Agentur ist dem Wirtschaftsministerium nachgeordnet, das bedeutet: unterstellt. Das Ministerium muss vor der Zertifizierung ausschließen, dass die Versorgungssicherheit in Deutschland und Europa durch die Pipeline nicht bedroht ist.
Die zweite Hürde setzt das EU-Recht, nämlich die so genannte Gasmarktrichtlinie. Sie fordert eine Trennung von Netzbetrieb und Gaslieferung. Gapzrom darf also nicht gleichzeitig die Pipeline betreiben und Gas liefern. Zu diesem Punkt sind Gerichtsverfahren anhängig, die sich bis ins nächste Jahr ziehen können. Dass sie die Inbetriebnahme stoppen ist unwahrscheinlich, zumal der russische Ölkonzern Rosneft schon im Gespräch als weiterer Gaslieferant ist, um den EU-Vorgaben zumindest vordergründig zu entsprechen.
Die dritte Hürde könnte eine Regierungsbeteiligung der Grünen nach der Bundestagswahl sein. Sie lehnen die Pipeline rundweg ab, genauso übrigens wie viele Experten – etwa vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, die Nordstream 2 für die Gasversorgung schlicht für überflüssig halten.
Gut gewappnet ist Gazprom, weil die Deutschen bald den Eindruck gewinnen könnten, dass sie ohne das Erdgas aus Nordstream 2 nicht über den Winter kommen - und es pragmatisch am besten wäre, hier vor allem bei der Zertifizierung Tempo zu machen. Die Abhängigkeit von russischem Gas wird den Deutschen gerade zumindest sehr deutlich vor Augen geführt. Gazprom spielt in die Karten, dass Erdgas derzeit knapp ist wie lange nicht mehr – und deshalb teuer wie lange nicht mehr.
Als Erklärung für diese Knappheit gibt es ein Markt-Narrativ. Das besagt: Insgesamt gibt es bei der Versorgung Europas und Deutschlands immer mehr Engpässe. Die Niederlande stellen 2022 alle Lieferungen von ihrem Erdgasfeld in Groningen ein, und Gazprom lieferte in diesem Jahr so viel wie abgemacht, aber insgesamt weniger als erhofft. Tatsächlich sind die Liefermengen aus Russland geringer, als sie vermeintlich sein könnten, vor allem über die Ukraine. Und genau deswegen sind die Gasspeicher in Deutschland auch nicht so gut gefüllt, wie sie es etwa im vergangenen Jahr waren.
Aus Gazproms Sicht mag es dabei durchaus rational sein, gerade jetzt, wo sehr niedrige Gaspreise aus den vergangen Jahren ausgeglichen werden können, nicht weiter Gas auf den Markt zu werfen, um die Hochpreisphase nicht zu schnell zu beenden. Theoretisch könnte Flüssiggas (NLG) etwa aus den USA die Nachfrage in Europa abdecken. Donald Trumps Regierung hatte NLG wahlweise als „freedom gas“ oder „molecules of freedom“ bezeichnet – und gehofft, daraus einen Verkaufsschlager zu machen. Funktioniert auch, nur sind die Preise in Asien derzeit eben höher, weil die Wirtschaft dort richtig angesprungen ist, sodass die Freiheitsmoleküle sich eher dorthin orientieren dürften als Richtung Europa.
Wird der Winter milde, ist das alles halb so wild. Wird der Winter jedoch kalt, könnten die niedrigen Füllstände in den Speichern und die verlockende Aussicht, Defizite über die schicke, neue Nordstream 2 Pipeline auszugleichen, manches Verfahren beschleunigen. Gazprom kann dem Winter so sehr gelassen entgegensehen. Die Europäer können das nicht.
Natürlich gibt es auch noch ein geopolitisches Narrativ. Es besagt, dass die knappe Gasversorgung in Europa nicht allein marktgetrieben ist, sondern das politische Motive eine wichtige Rolle gespielt haben – um eben Europa ein Stück weit seine Abhängigkeit von russischem Gas vorzuführen.
In jedem Fall haben Gapzrom und der Kreml das Spiel um Nordstream 2 von Anfang an sehr geschickt gespielt. Jetzt ist die Pipeline fertig, und die Europäer stehen im Spiel ums Gas im Schach. Ist das Spiel endgültig zu Ende, wird das Moskau sicher auch eine Meldung wert sein, vielleicht sogar sekundengenau.
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