Ein unübersichtliches Geflecht aus engen Gängen und Treppenhäusern durchzieht die halb fertige Umspannplattform im Trockendock der Werft Nordic Yards in Wismar. Kabel hängen von den Decken, Arbeiter schweißen am Gestänge des Stahlungetüms, und überall riecht es nach Lösungsmitteln. Auftraggeber für die Plattform ist Siemens.
In 2013 soll sie endlich fertig werden. Dann wollen die Münchner die Helwin 1, wie die Plattform heißt, mit Spezialschiffen in die Nordsee schleppen. In der Nähe von Helgoland soll sie von 2014 an dafür sorgen, dass der Strom von Windparks wie Nordsee Ost und Meerwind an Land kommt. Es ist eine gewaltige logistische Leistung. 70 Meter lang, 50 Meter breit und 30 Meter hoch ist die Helwin 1. Wenn sie fertig ist, wiegt sie 15.000 Tonnen, mehr als 25 vollgetankte und voll besetzte Airbus A380. Es gibt weltweit nur wenige Spezialschiffe, die eine solche Plattform transportieren können.
Probleme mit dem Offshore-Geschäft
Doch in die Superlative mischt sich Wehmut. Denn sollte Siemens den Termin einhalten, wird die Plattform ein Jahr später als geplant an den Start gehen. Auch eine zweite Plattform, an der Siemens derzeit baut, kann statt 2013 erst 2014 den Betrieb aufnehmen. Die Borwin 2 soll die Windparks nahe der Insel Borkum anbinden. Insgesamt eine halbe Milliarde Euro Verlust haben die Verzögerungen den Münchnern in den ersten sechs Monaten des laufenden Geschäftsjahres eingebrockt.
Für Siemens ist das Offshore-Geschäft nicht länger Hoffnungsträger, sondern eine Art Problembär – auch weil Konkurrenten wie die schweizerisch-schwedische ABB offenbar weniger Probleme bei der Anbindung ihrer Hochsee-Windparks haben.
Die Verzögerungen und Verluste haben bei den Münchnern die höchste Alarmstufe ausgelöst und Konzernchef Peter Löscher hart durchgreifen lassen. Udo Niehage, Chef der Geschäftseinheit Stromübertragung, die für die Offshore-Anbindung zuständig ist, musste Anfang Mai gehen. Für ihn kam Karlheinz Springer. 100 Tage gab Löscher ihm, dann müsse er konkrete Lösungsvorschläge präsentieren.
Umstrukturierung bei Siemens
Entscheidender Mann unter Springer, der solche Vorschläge bieten muss, ist Tim Dawidowsky. Der hagere Manager leitet seit Anfang Juli die umorganisierte Sparte Übertragungslösungen. Der 45-jährige Wirtschaftsingenieur weiß: Er muss retten, was noch zu retten ist.
„Das Ding wird zu Ende gemacht und auf See gehen“, brummt Dawidowsky fast beschwörend, während er auf der Werft in Wismar durch die halb fertige Umspannplattform klettert. Jeden Freitag lässt er sich Bericht erstatten über den Fortgang der Arbeiten. Um die Fertigung zu beschleunigen, stellt Siemens seit Monaten Ingenieure ein. Auf 300 Spezialisten will der Konzern die Rettungsmannschaft verdoppeln.
Geteilte Meinungen
Einstige Weggefährten halten Dawidowsky für den richtigen Mann, um die Krise zu meistern. „Der ist zupackend und hat jahrelang Projekte an der Front verantwortet“, sagt ein ehemaliger Siemens-Manager, der mit ihm in China zusammenarbeitete. Dort hat Dawidowsky jahrelang für den Siemens-Konzern Öl- und Gasplattformen für den asiatischen Markt gebaut. Zuletzt verantwortete er für die Münchner den Bau von Stahlwerken. Dass sich Bau und Anschluss der beiden Offshore-Plattformen noch einmal verzögern, hält Dawidowsky für ausgeschlossen.
Andere sind da nicht so sicher. Der Essener Versorger RWE etwa baut bei Helgoland den Windpark Nordsee Ost. 48 Windräder sollen hier bald eine Leistung von knapp 300 Megawatt erzeugen. Angebunden werden soll der Park über die Siemens-Plattform Helwin 1. Doch in Essen weiß niemand etwas von einem Starttermin 2014, wie ihn Siemens zu erreichen hofft.
Im Gegenteil: Im Juni bekam RWE Post von der holländischen Netzgesellschaft Tennet, die für die Anbindung zuständig ist. Es komme zu weiteren Verzögerungen, hieß es in dem Schreiben, die Zulieferer hätten Probleme – also Siemens. Ungeachtet dessen will RWE noch in diesem Sommer die Fundamente für die 48 Windmühlen setzen.
Ob der Versorger den Netzbetreiber Tennet wegen der Verzögerung verklagt, ist noch nicht entschieden. „Eine Klage ist die Ultima Ratio“, heißt es bei RWE. Zunächst setzen die Essener auf den neuen Vorschlag der Bundesregierung zur Haftungsregelung im Fall von Verzögerungen oder Betriebsunterbrechungen bei Offshore-Windparks.
Fehlerhafte Planung
Kürzlich haben Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) und Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) vorgeschlagen, dass Betreibern von Windparks bei Betriebsunterbrechungen oder nicht erfolgter Netzanbindung bis zu 90 Prozent der entgangenen Ökostromumlage erstattet werden sollen. Die Kosten will die Regierung auf die Stromkunden abwälzen. Vom Inkrafttreten einer solchen Regelung will RWE auch abhängig machen, ob der Konzern weitere Hochsee-Windparks baut.
Krisenmanager Dawidowsky räumt Fehler bei der Planung ein. „Sicherlich wäre es klüger gewesen, am Anfang nur ein Projekt statt vier anzunehmen“, sagt er. Bei zwei weiteren Offshore-Umspannwerken, den Plattformen Helwin 2 und Sylwin 1 für Tennet, liege man immerhin im Zeitplan.
In der Hoffnung auf das große Geschäft und getrieben vom Glauben, Weltmarktführer und unangefochtener Spezialist beim Offshore-Windgeschäft zu sein, hatte Siemens sich 2010 übereilt auf die Projekte gestürzt. Was auf das Unternehmen zukommen würde, war den Verantwortlichen nicht klar. Man habe die Komplexität unterschätzt, sagt Dawidowsky. So wurden viel mehr Stahl und Beton verbaut als geplant.
Entwicklung der größten Windkraftanlagenbauer
Die Experten der Beratungsgesellschaft Oliver Wyman haben zusammengetragen, wie hoch die Zahl der neu installierten Leistung der jeweiligen Windkraftanlagenbauer weltweit war und wie das Unternehmen in den Jahren 2008 bis 2011 gewachsen ist. Dazu wurde die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate (Compound Annual Growth Rate, abgekürzt CAGR) herangezogen.
Neuinstallation 2011 in Megawatt: 3.042
Wachstum 2008-2011 (CAGR): 173%
Neuinstallation 2011: 1.500
Wachstum 2008-2011: 105%
Neuinstallationen 2011: 3.600 MW
Wachstum 2008-2011: 46%
Neuinstallation 2011: 3.700 MW
Wachstum 2008-2011: 37%
Neuinstallation 2011*: 3.116 MW
Wachstum 2008-2011: 20%
*inklusive REpower Systems
Neuinstallation 2011: 2.591 MW
Wachstum 2008-2011: 11%
Neuinstallation 2011: 1.100 MW
Wachstum 2008-2011: 2%
Neuinstallation 2011: 3.308 Megawatt
Wachstum 2008-2011: 2%
Neuinstallation 2011: 3.203 MW
Wachstum 2008-2011: 0 %
Neuinstallationen 2011: 5.217 MW
Wachstum 2008-2011: - 1%
Neuinstallationen 2011: 970 MW
Wachstum 2008-2011: - 3%
Neuinstallationen 2011: 3.170 MW
Wachstum 2008-2011: -3%
Neuinstallationen 2011: 651 MW
Wachstum 2008-2011: - 20%
Dazu kommt: Manche Vorschriften zur Konstruktion von Offshore-Plattformen haben die Behörden erst erlassen, nachdem Siemens die Bauaufträge bereits hatte. So stufte der Gesetzgeber die Umspannplattformen als vergleichbar mit Ölbohrplattformen ein und nicht als Schiffe. Der Hersteller muss deshalb jede einzelne Schweißnaht zertifizieren lassen. Bei Schiffen ist dies nicht nötig. Um Meeressäuger vor Lärm zu schützen, darf die Installation der Plattformen auf hoher See zudem höchstens 165 Dezibel in einem Umkreis von 750 Metern verursachen. Die erforderlichen Maßnahmen kosten pro Plattform mehrere Millionen Euro zusätzlich.
Ursprünglich hatte Siemens für den Bau einer Umspannplattform gut 30 Monate geplant. Inzwischen kalkulieren Dawidowsky und seine Ingenieure mit 50 Monaten.
Voranschreitende Konkurrenz
Andere sind da schneller. Konkurrent ABB hat Ende 2009 mit der Borwin 1 seine erste Plattform vor Borkum installiert und brauchte ganze 26 Monate für Bau und Installation. Zwar ist die Borwin 1 kleiner. Auch waren die Bauvorschriften seinerzeit noch nicht so eng gefasst wie heute. Allerdings hat ABB sich früher als Siemens an eine Standardisierung der Offshore-Plattformen gemacht. Die Stahlstrukturen etwa hat ABB inzwischen so konzipiert, dass sie in allen führenden Werften der Welt gebaut werden können. Das bringt Flexibilität. So arbeitet ABB mit Werften in den Niederlanden, Norwegen und Dubai. Für den Transport der Plattformen zum Installationsort braucht ABB zudem keine Spezialschiffe mehr, es reichen einfache Schlepper. Auch entfallen die teuren Maßnahmen zum Lärmschutz, denn bei der Installation sind keine Rammarbeiten erforderlich.
Zurzeit arbeitet ABB an zwei Plattformen, der Dolwin 1 und der Dolwin 2. Sie sollen in der Nordsee vor dem Dollart installiert werden. Beide sind von der Größe mit den Siemens-Plattformen vergleichbar. Dolwin 1 wird ABB noch in diesem Jahr installieren, Dolwin 2 im Jahr 2014. Bei beiden liegt der Siemens-Wettbewerber im Plan. Die Bauzeit beträgt gut zwei Jahre.
Gespannter Blick auf die Quartalszahlen
Bei den Münchnern drücken die Bau-Verzögerungen der Offshore-Plattformen kräftig auf die Bilanz. Statt der ursprünglich prognostizierten sechs Milliarden Euro Nettogewinn für das am 30. September endende Geschäftsjahr, erwartet Siemens jetzt nur noch zwischen 5,2 und 5,4 Milliarden Euro Gewinn. Ende Juni sprach Finanzvorstand Joe Kaeser mit Blick auf das weitere Geschäft von einem „steinigen Weg“.
Mit Spannung blicken Analysten darum am kommenden Donnerstag nach München. Dann legt der Konzern die Zahlen für das dritte Quartal vor. Experten sind sich einig, dass die von Löscher versprochene Erholung im zweiten Halbjahr abgeblasen ist. „Siemens wird sein Gewinnziel erreichen“, glaubt Markus Friebel von Independent Research in Frankfurt, „jedoch am ganz unteren Ende des Zielkorridors ankommen.“ Friebel rechnet mit etwa 5,1 Milliarden Euro Nettogewinn im laufenden Geschäftsjahr. Grund seien die Unsicherheiten der weltweiten Konjunkturentwicklung. Selbst in einstigen Boom-Staaten wie China stottert der Konjunkturmotor.
Lichtblick immerhin: Letzten Donnerstag meldete Siemens den Zuschlag für einen Windpark-Auftrag vor der britischen Küste. Kein kleines Projekt – das Auftragsvolumen liegt bei 2,5 Milliarden Euro.