Wladimir Putin hat sich längst entschieden, die Deutschen mit der Waffe Gas nicht nur anzugreifen, sondern sie zu martern, zu quälen. Nicht mit einem Mal hat er den Gasfluss über die Pipeline Nord Stream 1 abgedreht, sondern ihn nach und nach gedrosselt, zuerst auf 60, dann auf 40 Prozent, seit der Wartung im Juli gesteht er 20 Prozent der vollen Kapazität zu. Dabei spielt der Kreml geschickt mit Hoffnungen und Unsicherheiten. Was, wenn die Turbine, die jetzt in Deutschland lagert, wieder eingebaut wird? Könnte dann nicht … oder nein, einen Moment, jetzt kommt doch wieder etwas dazwischen. Eine weitere Wartung, Ende August. Dringend nötig. So sorry. Ihr werdet das verstehen, oder?
Wie erfolgreich Putin mit dieser Hinhalte-, Vorwands- und Täuschungstaktik ist, hat sich am Montag gut beobachten lassen. Mal eben ist der ohnehin schon betäubend hohe Gaspreis im Großhandel wieder in die Höhe geschossen. Es dürfte Putin gefallen, dass er mit seiner Taktik sogar so erfolgreich ist, dass es in Deutschland, jenseits des rechten Raunens in den sozialen Netzwerken, nun auch prominente Stimmen gibt, die sich dafür stark machen, nun doch, trotz allem, die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 freizugeben, zu öffnen, jene Leitung zu nutzen, über die im vergangenen Winter so viel gestritten worden ist.
Kubicki schafft einen Zombie
Wenn man, so das Argument des FDP-Vordenkers Wolfgang Kubicki, auf diesem Weg das Gas bekomme, dann sei’s drum. Nord-Stream-2-Gas sei schließlich nicht mehr oder weniger moralisch als Nord-Stream-1-Gas. Und wenn man damit einen Notstand bei Verbrauchern und Industrie auffange, dann sei doch allen damit gedient. Eigentlich war Nord Stream 2 spätestens mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine tot, endgültig entlarvt als Waffe des russischen Präsidenten, abgeschrieben, auch von den Investoren. Ja, die Pipeline ist fertig. Ja, sie ist gefüllt mit Gas. Aber sie wird nie genutzt werden. Das war der Konsens, den Kubicki jetzt bricht. Nord Stream 2 haucht er so scheinbar neues Leben ein, erweckt die tote Pipeline zu einem Zombie im politischen Tagesgeschäft.
Nord Stream: Wie es zu den beiden Ostsee-Gasleitungen kam
In Anwesenheit von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Russlands Präsident Wladimir Putin unterzeichnet ein Konsortium großer Energiekonzerne eine Vereinbarung zum Bau von Unterwasser-Leitungen durch die Ostsee. Polen, die Ukraine und Weißrussland sehen in den Plänen eine Konkurrenz zu ihren Landleitungen und fürchten um Einnahmen aus Transitgebühren.
Der Bau des ersten von zwei Strängen der Pipeline Nord Stream 1 auf einer Länge von 1224 Kilometern beginnt. Jede der zwei Leitungen besteht aus jeweils 100.000 Einzelrohren, die mit Hilfe mehrerer Schiffe in der Ostsee verlegt werden.
Im November 2011 strömt erstes Gas durch die erste Leitung von Nord Stream 1 vom russischen Wyborg bis ins deutsche Lubmin bei Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern). Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Russlands Präsident Dmitri Medwedew nehmen die Trasse symbolisch in Betrieb. Umweltverbände warnen vor nicht absehbaren Folgen für Flora und Fauna in der Ostsee.
Im Oktober 2012 geht der zweite Strang von Nord Stream 1 an den Start. Das insgesamt 7,4 Milliarden Euro teure Projekt kann fortan eine Menge von 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr transportieren.
Der Gesellschaftervertrag für das Projekt Nord Stream 2 wird unterzeichnet. Einziger Anteilseigner ist formal Russlands Energiekonzern Gazprom. Dazu kommen mehrere „Unterstützer“ - darunter auch deutsche Energieunternehmen.
Der Bau der Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 beginnt. Die Gasleitung soll weitgehend parallel zu Nord Stream 1 verlaufen und noch einmal soviel Gas transportieren können. In zwei Strängen sollen wieder jeweils 100.000 Einzelrohre verlegt werden. Ursprünglich geplanter Start der Pipeline ist Ende 2019, der sich jedoch mehrfach wegen fehlender Baugenehmigungen verzögert.
Im Dezember 2019 stoppen die Bauarbeiten abrupt. Die beiden Schweizer Verlegeschiffe werden wegen Sanktionsdrohungen der USA abgezogen. Die USA argumentieren, dass sich Deutschland mit der Pipeline in Abhängigkeit von Moskau begeben würde. Russland wirft den USA vor, sie würden eigene wirtschaftliche Interessen verfolgen und ihr Flüssiggas verkaufen wollen. Russische Schiffe übernehmen die Arbeiten.
Im September 2021 ist Nord Stream 2 nach Angaben von Gazprom fertiggestellt, aber noch nicht in Betrieb. Die Baukosten belaufen sich auf über zehn Milliarden Euro.
Angesichts eines drohenden Kriegs in der Ukraine legt die deutsche Bundesregierung Nord Stream 2 auf Eis. Offizieller Grund ist, dass die Freigabe durch die zuständigen Behörden fehlt, also die Pipeline nicht zertifiziert ist. Kurz danach beginnt Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine.
Im Juli 2022 wird der Gasfluss in Nord Stream 1 mit Hinweis auf Wartungsarbeiten unterbrochen.
Ende August 2022 stellt der russische Staatskonzern Gazprom den Gasfluss vollständig ein.
Ende September 2022 werden drei der vier Versorgungsstränge bei einem Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines durch Sprengungen zerstört. Der vierte Strang wurde stillgelegt. Aktuell sind alle Leitungen außer Betrieb (Stand: 26. Juli 2023).
Es gibt Alternativen zu Nord Stream 2
Was so eingängig und pragmatisch klingt, ist jedoch ein Irrweg, der auf der irrigen Annahme beruht, dass Deutschland tatsächlich nicht genügend Gas aus Russland bekommt, weil es wirklich so etwas wie technische Probleme gibt – und keine Alternativen. Das ist Unsinn, denn selbst wenn Nord Stream 1 wirklich und echt so schwere technische Probleme hätte, dass Putin (verfluchte Bürokratie!) nicht so viel liefern kann, wie er möchte, gäbe es andere Alternativen – etwa die Jamal-Pipeline, die durch Polen verläuft. Selbst über das ukrainische Leitungsnetz könnten die Kapazitäten hoch gefahren werden.
Gleichzeitig gäbe es keinerlei Garantie, dass Wladimir Putin auch über Nord Stream 2 ausreichend Gas liefern würde. Die Öffnung wäre für ihn ein propagandistischer Sieg, das ja, ein Kniefall der Deutschen in Lubmin. Aber selbst das würde seinem Ziel, die Europäer mit dem Gas zu martern, so lange es irgend geht, nicht dienen. Plötzlich, das ist wahrscheinlich, hätte dann eben auch der revitalisierte Zombie einen Schluckauf. Sorry.
Die FDP tut deshalb gut daran, Kubicki, diesmal ein Daneben-Denker, nicht zu folgen, selbst die Nord-Stream-Versteherin Manuela Schwesig hat eine Öffnung nun abgelehnt. In Lubmin soll bald ein schwimmendes Flüssigerdgas-Terminal eingesetzt werden. Dass dieses LNG-Terminal im nächsten Jahr in Betrieb geht, darauf sollte alle Energie verwendet werden. Der Abwehrkampf gegen Zombies lenkt davon nur ab, auch wenn die schnell viele quer denkende Follower nach sich ziehen.
Lesen Sie auch, warum selbst Unternehmen mit Milliarden-Gewinnen die Gasumlage in Anspruch nehmen können