Das Bundesumweltministerium hat mit Erleichterung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts reagiert. „Der Atomausstieg in Deutschland hat Bestand“, sagte Staatssekretär Jochen Flasbarth nach der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Die schwarz-gelbe Koalition hatte 2011 nach dem Reaktorunglück in Japan für die 17 deutschen Kraftwerke eine kurz zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung zurückgenommen. Damals wurde besiegelt, dass spätestens Ende 2022 Schluss ist mit der Atomkraft. Bis dahin müssen alle Meiler zu festgeschriebenen Terminen vom Netz. Ursprünglich zugesagte Extra-Strommengen wurden wieder kassiert.
Parteien befürchten hohe Kosten
Dafür steht den Energiekonzernen eine „angemessene“ Entschädigung zu, wie das Bundesverfassungsgericht nach Klagen von Eon, RWE und Vattenfall feststellte. Die Frage, was "angemessen" bedeutet, erhitzte kurz nach der Urteilsverkündung die Gemüter.
"Für die Folgen der zunächst zugesagten und nach dem Super-GAU von Fukushima zurückgenommenen Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke kommen am Ende Stromkunden und Steuerzahler auf", befürchtete Thorsten Glauber von der Partei "FREIE WÄHLER". Er sagte: "Hier geht es aller Wahrscheinlichkeit nach um einen hohen dreistelligen Millionenbetrag."
Die Atomklagen in der Übersicht
Gut fünf Jahre nach der Katastrophe von Fukushima vom 11. März 2011 und dem abrupten deutschen Atomausstieg rollt die Welle von Schadenersatz-Klagen der Energiewirtschaft weiter – allerdings mit wenig Erfolg aus Sicht der Industrie. Anfang Juli wies das Landgericht Hannover die Forderung des Stromriesen Eon nach knapp 380 Millionen Euro Schadenersatz für die Betriebseinstellung der Atommeiler Isar 1 und Unterweser zurück. Eon wird wohl in Berufung gehen.
Auch in den bisherigen Verfahren zum 2011 verhängten Atom-Moratorium hatten sich die Gerichte zugeknöpft gezeigt: In Essen korrigierte das Gericht Ende 2015 den Schadenersatzanspruch von RWE noch vor der Entscheidung deutlich nach unten, in Bonn kassierte der EnBW-Konzern im Februar 2016 eine glatte Abweisung.
Das dreimonatige Moratorium für die ältesten deutschen Blöcke hatten die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Atomländer wenige Tage nach Fukushima vereinbart. Kurz danach folgte die Änderung des Atomgesetzes mit dem endgültigen Aus für zunächst acht Kraftwerke und dem Ausstiegsszenario für die übrigen Anlagen bis Ende 2022. Eon sieht sich bei Isar 1 und Unterweser enteignet und verlangt vom Bund sowie den Ländern Bayern und Niedersachsen eine Entschädigung. „Ich erwarte Gerechtigkeit“, hatte Konzernchef Johannes Teyssen im Frühjahr zu den Atomklagen zur Vorlage seiner Jahreszahlen gesagt. Diese waren – nicht zuletzt wegen der Energiewende – tiefrot.
Alle Kläger stützen sich auf eine Entscheidung des hessischen Verwaltungsgerichtshofes von Anfang 2013. Das Gericht hatte das Moratorium für die beiden RWE-Kraftwerksblöcke von Biblis an der Bergstraße für rechtswidrig erklärt – unter anderem, weil RWE vor der Entscheidung nicht ordnungsgemäß angehört worden sei. Die Entscheidung wurde vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt.
Schon in der mündlichen Verhandlung Ende April hatte der Vorsitzende Richter in Hannover, Martin Schulz, Zweifel an der Eon-Position angemeldet. Schließlich habe sich Eon 2011 gegen die möglicherweise rechtswidrigen Staatsauflagen nicht gewehrt. Wer nicht klage, könne nicht nachträglich Schadenersatz verlangen, sagte Schulz. Diese Sichtweise bestimmte nun auch das Urteil: Mit einem Gang zum Verwaltungsgericht hätte Eon das Moratorium möglicherweise stoppen können, sagte das Gericht. Auf die verbreitete Anti-Atomstimmung nach Fukushima, die einen solchen Schritt unmöglich gemacht habe, könne sich Eon nicht berufen. Schließlich sei die Kernenergie schon lange vor der Katastrophe in Japan umstritten gewesen.
Das wichtigste Verfahren ist die Mitte März dieses Jahres verhandelte Grundsatzklage von Eon, RWE und Vattenfall gegen den schnellen Atomausstieg vor dem Bundesverfassungsgericht. Bisher ist nicht bekannt, wann hierzu das Urteil fällt. Falls die Konzerne beim höchsten deutschen Gericht gewinnen, könnten Zivilrechtsverfahren mit Forderungen in zweistelliger Milliardenhöhe folgen.
Das bezweifeln manche Beobachter. Schließlich steht der milliardenschwere Atomausstieg an – und die Industrie will dringend die kaum kalkulierbaren Lasten für die Endlagerung loswerden. Nach dem Vorschlag der Atom-Kommission von Ende April sollen Eon, RWE, Vattenfall und EnBW dafür insgesamt 23,3 Milliarden Euro in einen Fonds überweisen. Über Details wird derzeit heftig hinter den Kulissen gerungen. Das Fallenlassen aller Klagen seitens der Industrie könnte zur Verhandlungsmasse in diesem Poker um Milliarden zählen, wird vermutet.
Und auch bei der SPD wurde geschimpft: "Angela Merkel hat den rot-grünen Atomausstieg durch ihr panisches Hin-und-Her kaputt gemacht", sagte Generalsekretärin Katarina Barley der Nachrichtenagentur Reuters. "Hätte sie damals alles bei unseren Ausstiegsplänen belassen, gäbe es solche Probleme jetzt nicht." Merkel habe das Ergebnis "ihrer unseriösen Energiepolitik selbst zu verantworten". Wie Ausgleichsregelungen aussehen könnten, die die Richter für einzelne Punkte gefordert haben, muss allerdings erst im Ministerium erarbeitet werden. „Milliardenforderungen sind definitiv vom Tisch“, sagte Flasbarth.