Virtuelle Hauptversammlung von Siemens Energy Im Wohnzimmer von Luisa Neubauer

Vorstandschef Christian Bruch spricht bei der Siemens Energy HV Quelle: Siemens Energy

Die erste Online-Hauptversammlung eines Dax-Konzerns mit Live-Rederecht ist die von Siemens Energy. Sie startet mit technischen Problemen. Später dominieren Klimaaktivisten. Fast wie früher in der Münchner Olympiahalle.

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Joe Kaeser schaut leicht irritiert, als er gut eine Stunde nach Beginn der Siemens-Energy-Hauptversammlung vorzulesen beginnt. „Ich darf informieren“, sagt der Aufsichtsratsvorsitzende, dass es „bei einzelnen Aktionären“ beim Zugang zu der virtuellen Versammlung „zu Problemen gekommen sein kann“. Kaeser runzelt die Stirn. „Geht ja schon gut los.“ 

Und so geht es erst mal weiter in der ersten Online-Hauptversammlung eines Dax-Konzerns im neuen Format mit Live-Reden der Aktionäre über Video. Mühsam, stockend – und für einige Aktionäre gar nicht. Daniel Bauer von der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger wird später beklagen, erst habe er sich nicht einloggen können, dann alles nur bruchstückhaft gehört.

Kaeser erläutert im Detail, wie Redner sich in einen virtuellen Warteraum zu begeben haben. Dorthin wiederum sei die Übertragung des Versammlungsgeschehens zeitverzögert, weshalb er immer wieder kurze Pausen einlegen werde, damit die Redner nichts von der Hauptversammlung verpassten.

Wenig später unterbricht Kaeser seinen Ablauf abermals, sagt, in Einzelfällen seien Probleme weiterhin nicht auszuschließen. Und trägt seine organisatorischen Hinweise vorsorglich ein zweites Mal vor. Dann verliest er die Präsenz: 65 Prozent des Aktienkapitals sind vertreten, nicht gerade viel angesichts des Großaktionärs Siemens, der allein 35 Prozent beisteuert. Um für fünf Minuten zu unterbrechen, damit die ersten Redner sich in den virtuellen Warteraum begeben können.

Die erste Schalte zu Daniela Bergdolt von der Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz funktioniert tadellos. Vor weißer Wand zeigt sich Bergdolt sehr ungehalten über die immer neuen Belastungen durch die kriselnde Windtochter Siemens Gamesa. Diese brockte Siemens Energy im ersten Quartal des neuen Geschäftsjahres, also im Zeitraum von Oktober bis Dezember, abermals fast 600 Millionen Euro Nettoverlust ein.  

Schon die zweite Rednerin, Vera Diehl, Fondsmanagerin von Union Investment, schafft es nicht in den virtuellen Hauptversammlungsraum, weshalb Kaeser Illya Lebedynets von der Deutsche-Bank-Fondstochter DWS vorzieht. Der kritisiert, es fehle im Aufsichtsrat von Siemens Energy an Unabhängigkeit. Da Kaeser bis vor zwei Jahren Vorstandschef von Siemens war, sehe die DWS ihn als Chefkontrolleur der seit 2020 börsennotierten Siemens Energy nicht als unabhängig an.

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Diehls zweiter Versuch klappt. Die Fondsmanagerin bemängelt mangelndes Engagement bei der Nachhaltigkeit sowie die Lieferung von Steuerungstechnik für neue Atomreaktoren in Ungarn, die der russische Staatskonzern Rosatom errichtet. Aus London ist dann Lisa Lange vom britischen Fondsmanager Federated Hermes zugeschaltet. Auch sie bezweifelt, ob Siemens Energy genug für das Pariser Klimaschutzabkommen tut.

Nun läuft es mit den Videobeiträgen. Um 12.50 Uhr sind die ersten zehn Redner durch, und Kaeser dankt für die „sehr interaktiven Beiträge“. Er verspricht, über das Format jedes Jahr neu zu entscheiden. „Wir sehen sehr wohl, dass eine Hauptversammlung eine Stätte der Begegnung ist“, zwischen Investoren, zwischen Mitarbeitern und ehemaligen Mitarbeitern. Später räumt er ein: Etwa 160 Aktionäre hätten Siemens Energy kontaktiert, weil sie die Versammlung wegen technischer Probleme zeitweise nicht verfolgen konnten. Die Ursache: „ein Engpass im technischen System unseres Service-Providers“. Verantwortlich für die Panne ist Adeus, eine Tochter der Allianz.

Letztlich bleibt Lisa Lange die einzige zugeschaltete Profi-Anlegerin aus dem Ausland. Befürworter virtueller Hauptversammlungen argumentieren gern, endlich könnten sich mehr Investoren auch von außerhalb Deutschlands beteiligen. Bei Siemens Energy sind keine Profi-Anleger vertreten, die nicht vorher schon auf Siemens-Hauptversammlungen aufgetreten wären. Stattdessen reiht sich am Nachmittag, wie einst bei Siemens-Hauptversammlungen in der Olympiahalle, Rede an Rede von Klimaaktivistinnen, Menschen- und Völkerrechtsschützerinnen.

Eindringlich wendet sich Luisa Neubauer von „Fridays for Future“ an Vorstand und Aufsichtsrat. Sie sendet offenbar aus ihrem Wohnzimmer, im Hintergrund ist eine Ecke ihres türkisblauen Sofas zu sehen. „Wir blicken fassungslos auf die Geschäftspraktiken von Siemens Energy“, sagt Neubauer. Der Energietechnikkonzern sei für 1,3 Billionen Tonnen Kohlendioxidemissionen verantwortlich, mehr als der Energieversorger RWE. 99 Prozent davon kommen aus dem sogenannten „Scope 3“-Bereich und entstehen bei Siemens Energys Kunden. Einen Plan, das zu reduzieren, habe das Unternehmen nicht.

Der russische Umweltaktivist Wladimir Sliwjak von der russischen Nichtregierungsorganisation Ecodefense ist 2021 von Russland nach Deutschland geflohen. Über eine Sprecherin lässt er vortragen, er könne nicht zurück, solange Präsident Wladimir Putin an der Macht sei. Sonst käme er direkt ins Gefängnis. Er könne nicht verstehen, dass Siemens Energy nach wie vor mit Rosatom zusammenarbeite. Einem russischen Staatskonzern, der Putin direkt unterstellt sei. Der neue Reaktor, den Rosatom in Ungarn errichte, werde direkt aus dem russischen Staatshaushalt finanziert.

Vorstandschef Christian Bruch antwortet, die Verträge über die Lieferung von Steuerungssystemen seien 2019 und 2020 unterschrieben worden, also lange vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine. Daran sehe sich Siemens Energy gebunden. Der Konzern verfüge über die sicherste Leittechnik, die am Markt verfügbar sei, und liefere diese an alle Nuklearprojekte in Europa.

Immer mehr Aktionäre wollen sich zu Wort melden, fast so wie einst in der Olympiahalle. Gegen 15 Uhr begrenzt Kaeser die Redezeit auf fünf Minuten und schließt eine halbe Stunde später die Rednerliste. Weitere Wohnzimmereinrichtungen sind zu besichtigen.

Über sieben Stunden nach dem holprigen Start schließt Kaeser die Generaldebatte, eine auch in der Olympiahalle übliche Hauptversammlungsdauer. Die Abstimmung danach ergibt ein Votum zugunsten der im Aktiengesetz neuerdings erlaubten Satzungsänderung: 91,7 Prozent der präsenten Aktionäre stimmten dafür, den Vorstand für die nächsten zwei Jahre zu virtuellen Aktionärstreffen zu ermächtigen. 

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Rechnet man die Stimmen des Großaktionärs Siemens heraus, ergeben sich gut 81 Prozent Ja-Stimmen der übrigen Eigner. Beim Streubesitz hat Siemens Energy die Mindesthürde für die Satzungsänderung von 75 Prozent also deutlich knapper genommen. Eine perfekte Premiere der neuen interaktiven Online-Hauptversammlung sieht anders aus.

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