Im Grunde genügt ein Blick auf die zwei Kurven, um die neue Hackordnung im Handel zu verstehen. Die eine zeigt den Umsatztrend von Aldi Süd im deutschen Heimatmarkt. Jahr für Jahr geht es ein Stückchen nach oben, wächst das Geschäft um ein paar Hundert Millionen Euro. Die andere zeigt die Entwicklung in den USA. Sie steigt fast im 45-Grad-Winkel an, das Geschäft wächst dort alljährlich um Milliardensummen.
Folgt man einer Prognose des Frankfurter Marktforschers Planet Retail, werden sich die Kurven schon in zwei Jahren kreuzen: Erstmals wird der deutsche Discountprimus dann in einem Auslandsmarkt mehr Umsatz erzielen als in der deutschen Heimat.
Es ist eine Zäsur – nicht nur für Aldi. Fast bei allen großen deutschen Handelskonzernen gewinnt das Auslandsgeschäft derzeit an Bedeutung. Wie im Rausch erschließen sie neue Märkte, stampfen Filialen aus dem Boden oder ziehen Online-Ableger hoch. Die neu erwachte Expansionslust ist zwar nicht auf die Discounter beschränkt. Doch auf sie konzentriert sich derzeit das meiste Interesse, schließlich powern sie im großen Stil.
So will Aldi Süd in den nächsten fünf Jahren insgesamt fünf Milliarden US-Dollar (4,7 Milliarden Euro) investieren und die Zahl seiner US-Filialen von derzeit 1600 bis Ende 2022 auf rund 2500 erhöhen.
Damit reagiert das Unternehmen auch auf den Einstieg von Lidl in den US-Markt. Der Aldi-Rivale steckt vom Hauptquartier in Arlington nahe Washington aus seine Claims ab. Am Donnerstag eröffnet Lidl die ersten neun Filialen in Virginia, North und South Carolina. Bis zu 100 Lidl-Märkte soll das Filialnetz innerhalb eines Jahres an der US-Ostküste umspannen. Weitere 500 Standorte könnten in den kommenden Jahren folgen.
Bis 2020 werden die deutschen Discounter nach einer Analyse des Beratungsunternehmens Bain in den USA jährlich um acht bis zehn Prozent wachsen – und damit fünfmal schneller als der einheimische traditionelle Lebensmittelhandel. Die Billigangreifer versetzen inzwischen sogar die notorisch selbstbewussten US-Händler in Wallung. Walmart, größter Handelskonzern der Welt, senkte jüngst die Preise seiner Eigenmarken, um Lidl einen heißen Empfang zu bereiten - und Aldis Preisattacken zu parieren.
Die umsatzstärksten Discounter Deutschlands
Aldi-Gruppe
Bruttoumsatz 2016: 28,315 Mrd. Euro
Bruttoumsatz 2017: 30,453 Mrd. Euro
davon:
Aldi Süd:
2016: 15,655 Mrd. Euro
2017: 16.952 Mrd. Euro
Aldi Nord:
2016: 12,660 Mrd. Euro
2017: 13,501 Mrd. Euro
Quelle: Statista/LZ Analytics
Stand: März 2018
Lidl
Bruttoumsatz 2016: 22,488 Mrd. Euro
Bruttoumsatz 2017: 23,470 Mrd. Euro
Netto Marken-Discount
Bruttoumsatz 2016: 13,975 Mrd. Euro
Bruttoumsatz 2017: 14,363 Mrd. Euro
Penny
Bruttoumsatz 2016: 7,953 Mrd. Euro
Bruttoumsatz 2017: 8,170 Mrd. Euro
Norma
Bruttoumsatz 2016: 3,33 Mrd. Euro
Bruttoumsatz 2017: 3,493 Mrd. Euro.
Die USA sind indes nicht das einzige Expansionsziel für Aldi und Lidl. Vor allem in Großbritannien und in osteuropäischen Ländern wie Rumänien und Serbien will Klaus Gehrig, Chef der Schwarz-Gruppe, zu der Lidl und Kaufland gehören, punkten.
Kaufland hat sich bereits Markenrechte in Australien gesichert. Auch Aldi-Süd-Chef Norbert Podschlapp zieht es in die Ferne. Zeitgleich zur US-Offensive wird er erstmals in Italien Läden eröffnen. Nach China wagten sich sowohl Aldi als auch Lidl vor wenigen Wochen bereits mit Online-Shops vor – und befinden sich in guter Gesellschaft.
Die Drogerieanbieter dm und Rossmann sind in China ebenfalls über Online-Shops präsent. Der Großhändler Metro strebt derweil nach Myanmar und will dort mit einem regionalen Partner Kunden beliefern. Der südafrikanisch-deutsche Möbelkonzern Steinhoff vermeldet fast im Monatsrhythmus neue Übernahmeziele. Selbst der Textildiscounter Kik will 2019 Aldis und Lidls Beispiel folgen und die ersten Läden in den USA eröffnen.
Keine Frage: Der deutsche Handel steckt mit in einer neuen Sturm-und-Drang-Phase. Gleich drei Faktoren, die sich teils gegenseitig verstärken, erklären den Erfolg der Handelsketten im Ausland.
Drei Gründe für den Expansionsdrang
1. Der historische Preisfokus
Deutschland gilt als Discounter-Nation. Als erste Händler stellten die Gebrüder Albrecht den Preis ins Zentrum ihrer Geschäftsidee und trafen mit dem Aldi-Prinzip in den 60er Jahren den Nerv der Kundschaft. Sie zogen den damals gesetzlich erlaubten Rabatt von drei Prozent von vornherein vom Preis ab. Zudem strichen sie das gesamte Warensortiment rigoros zusammen und sparten an allem, was unnötige Kosten verursachte. Der Discount-Handel war erfunden, wurde von den Markenherstellern und etablierten Händlern aber argwöhnisch beobachtet und bekämpft. Bis in die frühen 70er Jahre verteidigten sie die sogenannte Preisbindung der zweiten Hand für Lebensmittel und Getränke, die es dem Handel untersagte, seine Preise selbst festzulegen.
Aldi wurde wegen seiner Discountangebote von der Markenartikelindustrie nicht beliefert. Deshalb war das Unternehmen gezwungen, eigene Marken zu entwickeln und zu verkaufen. Als die gesetzliche Preisbindung 1974 schließlich kippte, konnten Händler auch Herstellermarken günstig verkaufen, was den Weg für den Einstieg weiterer Discounter wie Lidl und Penny ebnete. Während sich in anderen Ländern Anbieter mit dem größtem Sortiment oder dem besten Service durchsetzen konnten, etablierte sich in Deutschland eine Handelskultur, die vor allem auf Effizienz ausgerichtet ist und auf Niedrigpreise setzt. Gerade, wenn Konsumenten in wirtschaftliche Krisensituation sparen müssen, bieten sich damit Markteintrittschancen.
Fast alle deutschen Handelsketten, die derzeit mit Expansionsplänen im Ausland aufwarten, haben denn auch eines gemeinsam: Ihr Fokus liegt auf dem Verkauf von Waren zu besonders günstigen Preisen.
2. Frühe Internationalisierung
Der „Exportweltmeister“ Deutschland setzte auch im Einzelhandel früh auf Internationalisierung. Aldi übernahm 1968 die österreichische Kette Hofer, Metro schloss im gleichen Jahr einen Vertrag mit der Dutch Steenkolen Handelsvereeniging und eröffnete unter dem Namen Makro in den Niederlanden den ersten Markt außerhalb Deutschlands.
Nach und nach tummeln sich immer mehr deutsche Händler jenseits der deutschen Grenzen. Zunächst ist Westeuropa ihr bevorzugtes Ziel, nach dem Fall der Mauer kommen Osteuropa und später Asien dazu. Jetzt scheinen die USA zur bevorzugten Expansionsdestination zu werden.
Die größten Lebensmittelhändler Deutschlands
Bartells-Langness
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 3,09 Milliarden Euro (Schätzung)
Globus
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 3,23 Milliarden Euro
Rossmann
Umsatz mit Lebensmitteln in Deutschland: 5,18 Milliarden Euro
dm
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 6,33 Milliarden Euro
Lekkerland
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 8,98 Milliarden Euro
Metro (Real, Cash & Carry)
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 10,27 Milliarden Euro (Schätzung)
Aldi (Nord und Süd)
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 22,79 Milliarden Euro (Schätzung)
Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland)
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 28,05 Milliarden Euro (Schätzung)
Rewe-Gruppe
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 28,57 Milliarden Euro (Schätzung)
Edeka (inkl. Netto)
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 48,27 Milliarden Euro
Quelle: TradeDimensions / Statista
3. Überschaubarer Heimatmarkt
Dass die Händler schon seit Jahrzehnten ins Ausland drängen, liegt letztlich auch am überschaubaren und hart umkämpften Heimatmarkt. Nirgendwo sonst in Europa ballen sich ähnlich viele Supermärkte, Discounter und Drogerieanbietern wie in Deutschland.
Die Händler sind schlicht gezwungen, ins Ausland zu expandieren, um weiter zu wachsen. Zum Beispiel Aldi: „Während im Heimatmarkt Deutschland die Wachstumsmöglichkeiten extrem limitiert sind“, sagt Boris Planer, Discountexperte von Planet Retail , „ist das langfristige Potential in einigen der größten Auslandsmärkte der Welt noch über Jahrzehnte attraktiv: die USA, Großbritannien und perspektivisch auch China gehören dazu.“ Nicht nur Aldi macht sich nun daran, das Potential zu heben.