WirtschaftsWoche: Mister Wilke, seit Monaten haben deutsche Lebensmittelhändler auf den Start des Lieferdiensts Amazon Fresh gewartet. Nun legen Sie los. Warum erst jetzt?
Jeff Wilke: Lebensmittel auszuliefern ist nicht so einfach. Wir müssen sicher sein, dass sie jederzeit in hoher Qualität beim Kunden ankommen. Sonst funktioniert das ganze Konzept nicht.
Wie stellen Sie das sicher?
In den USA und Großbritannien läuft das Angebot schon seit einiger Zeit. Dort haben wir Erfahrungen gesammelt und zum Beispiel Prozesse entwickelt, die künstliche Intelligenz einbeziehen. Heute helfen uns Maschinen bereits dabei, den Frischegrad von Erdbeeren zu bestimmen.
Der deutsche Kunde achtet bei Lebensmitteln neben Frische vor allem auf den Preis.
Kunden auf der ganzen Welt wünschen sich gute Preise, große Produktauswahl und attraktive Lieferoptionen. In Deutschland verkaufen wir seit 2010 Lebensmittel und haben mit einer Auswahl von aktuell mehr als 680.000 Produkten im Trockenbereich...
...also zum Beispiel Cornflakes, Schokolade und verpacktem Brot...
...Erfahrungen gesammelt. Über unser Angebot Prime Now verkaufen wir in Berlin und München auch heute schon frische Produkte und andere Artikel des täglichen Bedarfs.
Viele fürchten, dass der Ausweitung Ihres Angebots ein großes Ladensterben folgt.
Der Einzelhandel ist überall auf der Welt sehr wettbewerbsintensiv. Ich denke, dass es in Deutschland wie auch in den USA genug Platz für mehrere Anbieter und ganz unterschiedliche Formate gibt. Dazu kommt, dass wir mit vielen Anbietern kooperieren.
Das sind Amazons nächste Projekte
Unter Amazon Dash versteht der Internetkonzern eine Art Einkaufsliste auf Knopfdruck. Die kleinen Aufkleber mit Taste können die Kunden einfach im Haus an das Waschmittel oder an das Hundefutter kleben - und wenn die Packung leer ist, per Knopfdruck schnell bei Amazon eine neue bestellen. Bisher ist der Service nur für Kunden des Premiumdienstes Amazon Prime in den USA und in Großbritannien erhältlich - für 4,99 US-Dollar je Button.
Mit "Amazon Handmade" macht der Online-Händler Anbietern wie Etsy oder DaWanda Konkurrenz. Auf dem Marktplatz will Amazon Künstler und Bastler versammeln, die individualisierbare Produkte verkaufen: Selbstgeschneiderte Kleider und Taschen, Schmuck, Armbänder, Möbel. Die Plattform befindet sich in den USA noch im Aufbau. Wer dort verkaufen will, kann sich jetzt schon bewerben. Allerdings kostet ein professioneller Verkäufer-Account knapp 40 Dollar im Monat, und Amazon will bei jeder Bestellung zwölf Prozent Provision einstreichen. Bei anderen Plattformen sind diese Konditionen weitaus günstiger für die Verkäufer - allerdings erreichen sie dort wahrscheinlich nicht so viele Kunden. Ob und wann Amazon Handmade auch nach Deutschland kommen soll, ist nicht bekannt.
Über seine Plattform "Amazon Home Service" vernetzt der Online-Händler in den USA Techniker, Handwerker und Trainer mit seinen Kunden in den Großstädten. Wer bei Amazon einen neuen Fernseher kauft, kann also gleich einen Techniker beauftragen, der den Fernseher anschließt und einrichtet. Auch Yoga-Stunden und Gitarren-Lehrer lassen sich über die Plattform buchen. Bis zum Jahresende will Amazons einen Service in 30 amerikanischen Großstädten anbieten.
In der Amazon-Heimatstadt Seattle fährt seit diesem Sommer der "Treasure Truck" - ein Lkw, vollgeladen mit Sonderangeboten. Kunden können die Waren auf dem Truck per App bestellen und direkt liefern lassen - zum Beispiel ein Surfboard für den Preis von 99 Dollar anstatt den üblichen 499 Dollar.
Prime Music ist der Musik-Streamingdienst von Amazon, eine Konkurrenz zu Spotify oder Apple. Wer Mitglied beim Amazon Premiumdienst Prime ist, kann den Service in den USA und auch in Großbritannien ohne Zusatzkosten nutzen. Allerdings verfügt Amazon bisher nur über eine Bibliothek von etwa einer Millionen Songs.
Amazon begnügt sich schon lange nicht mehr, Medien zu verkaufen - der Online-Händler produziert sie mittlerweile auch selbst. Über seinen Streamingdienst zum Beispiel hat Amazon die ersten Folgen der Serie "The Man in the High Castle" veröffentlicht. Darin geht es um die Frage: Wie würde die Welt aussehen, wenn die Nazis den zweiten Weltkrieg gewonnen hätten? Auch einen eigenen Kinofilm mit dem Titel "Elvis & Nixon" produziert Amazon. Was danach kommt? Wahrscheinlich ein eigenes Videospiel. Laut Medienberichten hat Amazon Entwickler von bekannten Spielen wie World of Warcraft oder Halo verpflichtet.
Mit wem?
In den USA und Großbritannien können Kunden mit Amazon Fresh auch Waren lokaler Händler ordern, wir liefern sie dann mit ihrer Bestellung aus. Dem Modell folgen wir auch in anderen Ländern.
Und Sie kommen so Ihrem Ziel näher, jeden Lebensbereich des Konsumenten zu erobern.
So denken wir nicht. Wir sehen uns als Erfinder, die die Welt für ihre Kunden besser machen wollen. Wenn wir davon überzeugt sind, dass wir unseren Kunden in einem Bereich zusätzlichen Nutzen bieten können, schreiben wir zunächst eine interne Pressemeldung und fangen dann an, unser Projekt „rückwärts zu realisieren“. Das hilft uns dabei, anders über den tatsächlichen Kundennutzen nachzudenken.
Jedes Unternehmen behauptet, dass der Kunde bei ihm an erster Stelle steht.
Wenn ich morgens aufstehe, beschäftige ich mich zuerst mit Rückmeldungen von Kunden. Auf dieser Basis arbeiten wir daran, das Einkaufserlebnis permanent zu verbessern. In jedem Land, in dem ich unterwegs bin, informiere ich mich zuerst darüber, wie es dort mit der Kundenzufriedenheit aussieht, welche Innovationen wir eingeführt haben, ob die Preise stimmen. Erst dann schaue ich mir die Umsatzzahlen an. Das machen andere Händler vielleicht anders.
„Unser Ziel ist es, den Gründungsgeist immer zu erhalten“
Gefallen Ihnen die deutschen Zahlen?
Ja, im vergangenen Jahr haben wir 14 Milliarden Dollar umgesetzt, zwei Milliarden mehr als 2015. Seit 2010 haben wir acht Milliarden Euro investiert und 14.500 Arbeitsplätze geschaffen.
Das schnelle Wachstum basiert darauf, dass Amazon schneller agiert als andere.
Unser Ziel ist es, den Gründungsgeist immer zu erhalten. Wenn es um Entscheidungen geht, die sich schnell revidieren lassen, ist es oft besser, diese schnell zu treffen, als lange auf alle wünschenswerten Informationen zu warten. Wichtig ist es dann aber, schlechte Entscheidungen schnell zu erkennen und zu korrigieren. Dann können Fehler weniger teuer sein als zu langsames Handeln.
Wegen des schnellen Wachstums halten Politiker Amazon für zu mächtig.
Weltweit geben sehr viele Menschen Geld für Dinge aus, die wir verkaufen. Trotzdem hat Amazon im globalen Einzelhandel gerade mal einen Anteil von einem Prozent. Es gibt ganz viel Platz für ganz viele Gewinner, Handel ist kein Fußballspiel, das nur einer gewinnt.
Sobald Amazon bei Lebensmitteln Ernst macht, können kleine Läden an der Ecke aber einpacken.
Viele kleine Läden an der Ecke arbeiten schon mit uns zusammen – etwa über unseren Marktplatz oder die Sprachassistentin Alexa. Wenn ein Unternehmen spezifischen Nutzen bietet, wird es das auch noch in 20 Jahren geben. Wenn Kunden schnell Milch benötigen, werden sie weiter in Läden gehen. Gleichzeitig bringt der technologische Wandel neue Konzepte hervor. Der Kunde hat damit mehr statt weniger Wahlmöglichkeiten.
Wenn Amazon weiterwächst wie bisher, wird sich das bald ändern.
Wir sehen es als unsere Mission, Kunden Auswahl zu bieten. Deshalb arbeiten wir auf der ganzen Welt mit Händlern zusammen, die ihre Produkte über uns verkaufen. Denen bieten wir eine Infrastruktur, von der sie ebenso profitieren wie unsere Kunden und wir. Rund die Hälfte der von uns weltweit verkauften Produkte stammt von eigenständigen Händlern.
US-Präsident Donald Trump will aber die Zerschlagung von Amazon prüfen.
Ganz ehrlich: Das sind nicht die Gedanken, mit denen ich morgens aufwache. Wir haben in Amerika bereits unter drei Präsidenten gearbeitet und haben auch in anderen Ländern Veränderungen in Regierungen erlebt. Unser Ansatz hat sich dabei nie verändert: Wir konzentrieren uns auf unsere Kunden und fokussieren uns auf exzellente Umsetzung.