Um die Zukunft zu sehen, musste Nina Hugendubel von München aus 8500 Kilometer reisen. Die Tochter der deutschen Buchhandelsdynastie betrat im äußersten Nordwesten der USA einen Buchladen. An dessen Fassade prangte ein Schriftzug, der im Handel als Synonym für Zukunft gilt: Amazon. Der Konzern eröffnete im vergangenen Herbst in Seattle seinen ersten echten Buchladen. Die rote Steinfassade verheißt Solidität, edle Holzdielen und dunkle Regale vermitteln den Eindruck von Beständigkeit und Tradition: „Aus Kundensicht ist das stimmig“, sagt Hugendubel, „das ist ein schöner Buchladen.“
Das sind Amazons nächste Projekte
Unter Amazon Dash versteht der Internetkonzern eine Art Einkaufsliste auf Knopfdruck. Die kleinen Aufkleber mit Taste können die Kunden einfach im Haus an das Waschmittel oder an das Hundefutter kleben - und wenn die Packung leer ist, per Knopfdruck schnell bei Amazon eine neue bestellen. Bisher ist der Service nur für Kunden des Premiumdienstes Amazon Prime in den USA und in Großbritannien erhältlich - für 4,99 US-Dollar je Button.
Mit "Amazon Handmade" macht der Online-Händler Anbietern wie Etsy oder DaWanda Konkurrenz. Auf dem Marktplatz will Amazon Künstler und Bastler versammeln, die individualisierbare Produkte verkaufen: Selbstgeschneiderte Kleider und Taschen, Schmuck, Armbänder, Möbel. Die Plattform befindet sich in den USA noch im Aufbau. Wer dort verkaufen will, kann sich jetzt schon bewerben. Allerdings kostet ein professioneller Verkäufer-Account knapp 40 Dollar im Monat, und Amazon will bei jeder Bestellung zwölf Prozent Provision einstreichen. Bei anderen Plattformen sind diese Konditionen weitaus günstiger für die Verkäufer - allerdings erreichen sie dort wahrscheinlich nicht so viele Kunden. Ob und wann Amazon Handmade auch nach Deutschland kommen soll, ist nicht bekannt.
Über seine Plattform "Amazon Home Service" vernetzt der Online-Händler in den USA Techniker, Handwerker und Trainer mit seinen Kunden in den Großstädten. Wer bei Amazon einen neuen Fernseher kauft, kann also gleich einen Techniker beauftragen, der den Fernseher anschließt und einrichtet. Auch Yoga-Stunden und Gitarren-Lehrer lassen sich über die Plattform buchen. Bis zum Jahresende will Amazons einen Service in 30 amerikanischen Großstädten anbieten.
In der Amazon-Heimatstadt Seattle fährt seit diesem Sommer der "Treasure Truck" - ein Lkw, vollgeladen mit Sonderangeboten. Kunden können die Waren auf dem Truck per App bestellen und direkt liefern lassen - zum Beispiel ein Surfboard für den Preis von 99 Dollar anstatt den üblichen 499 Dollar.
Prime Music ist der Musik-Streamingdienst von Amazon, eine Konkurrenz zu Spotify oder Apple. Wer Mitglied beim Amazon Premiumdienst Prime ist, kann den Service in den USA und auch in Großbritannien ohne Zusatzkosten nutzen. Allerdings verfügt Amazon bisher nur über eine Bibliothek von etwa einer Millionen Songs.
Amazon begnügt sich schon lange nicht mehr, Medien zu verkaufen - der Online-Händler produziert sie mittlerweile auch selbst. Über seinen Streamingdienst zum Beispiel hat Amazon die ersten Folgen der Serie "The Man in the High Castle" veröffentlicht. Darin geht es um die Frage: Wie würde die Welt aussehen, wenn die Nazis den zweiten Weltkrieg gewonnen hätten? Auch einen eigenen Kinofilm mit dem Titel "Elvis & Nixon" produziert Amazon. Was danach kommt? Wahrscheinlich ein eigenes Videospiel. Laut Medienberichten hat Amazon Entwickler von bekannten Spielen wie World of Warcraft oder Halo verpflichtet.
Doch die Patina ist nur geliehen – hinter den Kulissen ist alles anders als im Traditionsgewerbe. Was es auf den knapp 500 Quadratmetern an Gedrucktem zu kaufen gibt, haben keineswegs Buchhändler ausgewählt. Stattdessen geben Amazon-Kunden durch ihre Käufe und Bewertungen vor, was im Regal landet. Der Laden ist eine begehbare Kundenempfehlung.
Damit dreht der Konzern ein altes Prinzip um. „Früher war der Kunde auf uns Buchhändler angewiesen“, sagt Heinrich Riethmüller. Er ist Inhaber des Familienunternehmens Osiander, der ältesten Buchhandlung Baden-Württembergs, und Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. „Was der Händler früher nicht im Laden bestellen konnte“, sagt Riethmüller, „das gab es nicht.“
Dem Buchhandel geht Ladenfläche verloren
Durch das Internet und vor allem durch Amazon hat sich das geändert. Der Konzern umgeht den Buchhandel und will Zwischenhändler ausschalten, wo immer möglich. In San Diego eröffnet bald der zweite Laden, die Branche rechnet mit Hunderten weiteren – angeblich auch jenseits der US-Grenzen.
Amazon trifft auf eine Handelslandschaft, die nach wilden Jahren, in denen sich Filialkonzerne wie Hugendubel, Weltbild, Thalia und Bertelsmann erst Revierkämpfe lieferten, dann Riesenläden eröffneten und wieder schlossen, und die nun in eine neue Phase tritt. Allein im vergangenen Jahr hat der Buchhandel 40.000 Quadratmeter Verkaufsfläche verloren, und etwa 150 Läden schlossen. In Düsseldorf traf es zuletzt gar das bundesweit renommierte Traditionsbuchhaus Stern-Verlag. Dort werden jetzt Teppiche verkauft.
Doch die Deutschen kaufen unverändert gerne Bücher, deshalb machen auch weiter Geschäfte auf. 60 will allein die Augsburger Weltbild-Gruppe wieder eröffnen. Hugendubel übernimmt sämtliche Karstadt-Buchhandlungen, auch Osiander wächst auf bald 37 Filialen.
Die beliebtesten Bücher seit Erfindung des Buchdrucks
Paulo Coelho: Der Alchimist
(Diogenes, 172 Seiten, 9,90 €)
J. D. Salinger: Der Fänger im Roggen
(Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten, 15 €)
Dan Brown: Sakrileg
(Bastei Lübbe, 624 Seiten, 9,99 €)
Henry Rider Haggard: Sie
(Diogenes Verlag)
C. S. Lewis: Der König von Narnia
(Ueberreuter, 174 Seiten, 12,95 €)
Agatha Christie: Und dann gabs keines mehr
(FISCHER Taschenbuch, 224 Seiten, 7,95 €)
Cao Xueqin: Der Traum der roten Kammer
(Europäischer Universitätsverlag, 2195 Seiten, 49 €)
Antoine de Saint-Exupery: Der kleine Prinz
(Rauch, 103 Seiten, 14,90 €)
J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe
("Der Herr der Ringe"-Gesamtausgabe, Klett-Cotta, 1292 Seiten, 49,95 €)
Charles Dickens: Die Geschichte zweier Städte
(Insel Verlag, 505 Seiten, 13,00 €)
Die meistverkauften Bücher aller Zeiten in allen Sprachen. Nur Belletristik, ohne Comics, Heilige Schriften wie Bibel oder Koran und andere
ARD; Stand: 20.06.2013
So schälen sich mittlerweile die Konturen der neuen deutschen Buchlandschaft heraus: Die Filialisten haben dazugelernt. Sie arbeiten daran, alle Verkaufskanäle vom Laden übers Internet bis zum elektronischen Buch zu beherrschen. Wer nicht groß ist oder wachsen will, muss findig sein. Nischen besetzen. Und vor allem: seine Kunden zu Freunden machen.
Top-Lagen kosten die Buchhändler einen großen Teil ihres Umsatzes
Der Umbau der Branche lässt sich an kaum einem Ort so gut ablesen wie am Münchner Marienplatz. Fast vier Jahrzehnte stand hier gegenüber vom Rathaus eine Institution. Auf fast 4000 Quadratmetern und über sechs verschachtelte Stockwerke verteilt verkaufte der Hugendubel hier Bücher. Wohlgemerkt: „der“ Hugendubel, mit bestimmtem Artikel. Denn dies war das erste Buchkaufhaus der Republik, und es krempelte die Art und Weise um, wie Bücher verkauft wurden. Zuletzt war es mit einem geschätzten Umsatz von 25 Millionen Euro das größte des Kontinents. Und damit Vorbild für alle übrigen Großformate.
Doch das Haus war sichtbar in die Jahre gekommen, und Sanieren ist teuer. Der Vermieter wollte die Pacht erhöhen, es drohte das vollständige Aus. München protestierte, ehe am Ende eine halbwegs salomonische Lösung stand: Die Deutsche Telekom eröffnet unten einen Handyladen, darüber zieht auf zwei Etagen Hugendubel ein. Auf nur noch 1200 Quadratmetern.
"Für manche Konzerne sind Ladenmieten ein Teil des Marketingetats"
Es ist ein schmaler Grat: Einerseits wollen große Buchketten in den Toplagen der Städte vertreten sein, andererseits sind die begehrt und teuer. „Dennoch wollen wir hier bleiben, denn diese Lage ist der beste Service, den wir unseren Kunden bieten können“, sagt Nina Hugendubel, die das Familienunternehmen mit ihrem Bruder Maximilian führt. „Wir kommen ihnen entgegen.“ Allerdings sind die Hugendubels eben auch Kaufleute: „Für manche Konzerne sind die Ladenmieten ein Teil des Marketingetats“, sagt Maximilian, „bei uns muss sich jeder einzelne Laden rechnen.“ Darum schrumpft die Filiale in München auf ein Drittel, nur noch ein Bruchteil der Titelzahl wird im Angebot sein. Erhalten bleiben im Laden, der wohl Mitte 2017 startet, Leseinseln und ein Café, wenn auch deutlich kleiner. So wollen sie sich von Amazon unterscheiden: ein Ort sein, an dem sich Menschen treffen.
Dagegen hätte Martin Schwoll ebenfalls nichts einzuwenden. Er betreibt in Aachen den Buchladen Backhaus, nur 500 Meter entfernt hat die Mayersche ihren Stammsitz. Der Filialbetrieb, vor rund 200 Jahren gegründet, ist für Aachen und Nordrhein-Westfalen, was Hugendubel für München und Bayern ist, beide verzeichnen dreistellige Millionenumsätze. Schwoll dagegen ist froh, dass es seinen Laden überhaupt noch gibt. Und während Hugendubel und die Mayersche ihre Online- und Geschäftskundenbereiche ausbauen und Amazon an Offlineplänen feilt, freut sich Schwoll darüber, dass sein Laden im Gespann mit einer weiteren Filiale 2015 Gewinn machte – zum ersten Mal.
Besondere Auswahl lockt Kunden an
Was seine Kundschaft in den kleinen Laden lockt, ist die besondere Auswahl an Titeln. Backhaus versteht sich als literarische Buchhandlung. Die „Spiegel“-Bestsellerliste hat Schwoll verbannt: „Wir verkaufen nur, was zu uns passt.“ Das wird überregional anerkannt: Im vergangenen Jahr gehörte Backhaus zu den Preisträgern beim erstmals ausgeschriebenen Deutschen Buchhandlungspreis. Auch, weil Backhaus auf seinen knapp 90 Quadratmetern kleinen Verlagen Raum gibt. „Wir empfangen jedes Halbjahr mehr als 30 Vertreter“, sagt Schwoll, „das ist weit über dem Durchschnitt.“
9000 Titel bietet er, das Konzept scheint aufzugehen. Denn gegen den Branchentrend meldet der Backhaus-Chef für die ersten Monate 2016 steigende Umsätze, die er durch ungewöhnliche Aktionen füttert: Einmal im Monat lädt Backhaus zum „Spät-Lesen“. Ein Dutzend Leser darf sich drei Stunden lang ohne Buchhändler im Laden aufhalten, bei Käse und Wein, die Bilanz des Abends sei meist „sehr erfreulich“.
Vor zwei Jahren erhielt Ralph Effgen einen Anruf. Sein Bekannter Jörg Wagner, Filial-Vize der Kreissparkasse, fragte den Unternehmer aus Idar-Oberstein, ob er mit ihm eine Buchhandlung übernehmen wolle. Effgen musste nicht lange nachdenken. Seine Familie ist in der Region verwurzelt. Ralph hatte von seinem Vater Effgen Schleiftechnik übernommen, einen Spezialisten für Diamantwerkzeuge und Schleifmaschinen, und zu einer Gruppe mit 40 Millionen Euro Umsatz und 400 Mitarbeitern ausgebaut. Effgen hat miterlebt, wie sein Ort von 45.000 Einwohnern auf unter 30.000 schrumpfte, als Kasernen schlossen und Bundeswehr und US-Militär abzogen. Zu spüren bekam das auch der Handel, Kaufhof und C&A machten dicht. Schulz-Ebrecht, mit fast 130 Jahren ältester Buchhändler am Ort, hatte es im Februar 2013 ebenfalls erwischt. „Da mussten wir etwas tun“, erklärt der Unternehmer sein Engagement: „Wir wollen, dass diese Stadt lebendig bleibt.“
Sechs Wochen nachdem der Laden geschlossen hatte, machten Wagner und Effgen ihn zusammen mit drei Buchhändlerinnen gründlich renoviert wieder auf. Anders als Backhaus in Aachen ist Schulz-Ebrecht keiner, der sich seine Nische sucht. Wichtig ist, dass es ihn überhaupt noch gibt.
Kunden mit Sektempfängen und Filmabenden locken
Denn bei aller Dankbarkeit der Einwohner: Nachdem die Anfangseuphorie abflaute, ist der Buchladen kein Selbstläufer. Eine Alleinstellung ist noch kein Verkaufsargument, Amazon ist immer nur einen Mausklick entfernt. „Wir müssen deshalb die Leute immer wieder neu ansprechen“, sagt Effgen, „mit Frühlingsfesten und Sektempfang. Sonst übernimmt Amazonien.“
Immerhin: Der Aufwand, zu dem ein monatlicher Filmabend samt Dinner gehört, den Effgen mit seiner Frau im Stadttheater organisiert, lohnt. Der Umsatz steigt leicht, das vergangene Jahr konnte Schulz-Ebrecht mit einem zarten Plus von 3000 Euro abschließen. Auch weil Wagner und Effgen auf Lohn verzichten. „Das Wichtigste ist doch: Oberstein hat immer noch eine Buchhandlung.“
Bücher, Glanz und Glamour beim größten Kunstbuchverleger
Setzen Buchhändler Schwoll und Unternehmer Effgen auf individuelle Titelpalette und bodenständigen Lokalpatriotismus, ist Benedikt Taschen auf ganz etwas anderes aus: Er lockt Käufer mit Glanz und Glamour. Das verkörpert er gern auch persönlich, indem er sich mit Fotografen und Künstlern ebenso gern umgibt wie mit Filmstars. Der gebürtige Kölner ist einer der erfolgreichsten Kunstbuchverleger der Welt.
Unter anderem, weil er eigene Shops eröffnete. Schon vor der Krise der Buchhandlungen war er unzufrieden, wie die Kollegen seine Werke drapierten und sich aus mehr als 500 Titeln einzelne herauspickten. „Ich empfinde unsere Bücher als Familie“, sagt er. Und die gehört nun mal zusammen.
Im Jahr 2000 eröffnete Taschen seinen ersten Laden in Paris, der nur verlagseigene Bücher führt. 2003 folgte der Flagshipstore in Beverly Hills. Mittlerweile sind es zehn, von Mailand bis New York. Taschen imprägniert seine Läden gegen die Aufs und Abs der Branche, indem er sie als Buchboutiquen inszeniert und vom französischen Designer Philippe Starck entwerfen lässt.
In der Brüsseler Filiale signalisiert bereits der Türgriff in Form eines Astes, dass der Kunde einen Raum der Kunst betritt. Der Verlag legt großen Wert auf die richtige Lage und würde nie in die Einkaufsstraßen der Metropolen ziehen. Das hat auch praktische Vorteile: In Paris überzeugte der Verlag die Behörden, dass es weniger um Kommerz als um Kunst geht – er darf deshalb auch sonntags öffnen.
Kunden entdecken Buchläden wieder
Taschens Konzept mag aufwendig sein. Doch für den Kölner geht es offenbar auf. Im Sommer öffnet in Berlin in der Schlüterstraße unweit des Kurfürstendamms bereits der nächste Ableger – in Ziegel und Mörtel ausgeführter Beleg dafür, was im Buchhandel möglich ist. Auch diesseits von Amazonien.
Dass sich die Stimmung inzwischen auch bei den Lesern gewandelt hat und viele ihre Buchläden wiederentdecken, stimmt Maximilian Hugendubel ebenfalls optimistischer. Noch vor drei Jahren sei die Reaktion Außenstehender wenig aufbauend ausgefallen, wenn er von seinem Beruf erzählte: „Die Leute sagten: Oh, tut mir leid, euch gibt es ja bald nicht mehr.“ Die Phase sei überwunden, mittlerweile sehe er wieder eine Perspektive.
Osiander-Chef Heinrich Riethmüller will ebenfalls weitere Läden eröffnen oder übernehmen. Denn man habe in Logistik und Technologie investiert: „Mit jeder weiteren Fläche entwickeln sich die Kosten günstiger.“ Und damit klingt er schon gar nicht so viel anders als Amazon-Chef Jeff Bezos.