Helen Brendel übernimmt in Christiana Hermessens Küche an diesem Abend die Regie. 18 Uhr, ein Dienstag im September. Christiana hat eine Thermomix-Verkaufsparty organisiert und sechs Freundinnen und Bekannte eingeladen. Helen schleppt nun das mehr als sechs Kilo schwere Küchengerät und ihre Präsentationsunterlagen fünf Treppen hoch in die Wohnung im Düsseldorfer Stadtteil Unterbilk. Sollte Christiana sich zum Kauf entschließen, bekommt sie als Gastgeberin den 985 Euro teuren Thermomix 50 Euro billiger und Helen eine Provision, deren Höhe sie nicht verrät, die aber bei 100 Euro liegen dürfte.
Lockere Stimmung, alle duzen sich. Sandra, Verena, zwei Kerstins und Emil legen selbst Hand an. Jeder lernt unter Helens freundlich-straffer Anleitung mithilfe des weiß-grauen Gerätes auf der Küchenarbeitsplatte hacken, schroten, mixen und auf vier Ebenen dampfgaren – „alles ohne Umrüsten“ –, bedient die integrierte Waage, programmiert die Temperaturen und sekundengenau die Zerkleinerungszeiten. Der als „Multitalent“ gepriesene Thermomix rettet aber nicht nur, wie Helen verspricht, Hausfrauen vor Zeitverlust und Küchenfrust, sondern nebenbei auch seinen Hersteller, den 129 Jahre alten Vorwerk-Konzern.
Traditionskonzern schreibt rote Zahlen
Denn ausgerechnet mit seinem Stammgeschäft, dem Staubsaugervertrieb in Deutschland, kommt der Mischkonzern nicht mehr klar. Die von Haus zu Haus ziehenden Vertreter, die den Kobold im Wohnzimmer vorführen, gehörten einst zum Wirtschaftswunder wie der Schwarz-Weiß-Fernseher. Aber sie erwirtschafteten zuletzt acht Jahre lang sinkende Umsätze und drei Jahre rote Zahlen – auch 2011.
Trotz ansonsten guter Performance ächzt der Traditionskonzern deshalb unter einer Zerreißprobe. Um endlich die Kobold-Krise zu beenden, unterziehen die Manager das Unternehmen derzeit dem „größten Einschnitt in Vorwerks Markenauftritt und Vertriebsmodell seit 50 Jahren“, gibt Marketingchef Martin Berger dem 2011 begonnenen Umbauprozess eine historische Dimension.
Friktionen auf Jahre hinaus
Achim Schwanitz, der bis 2008 14 Jahre lang Vorwerk-Chef war, hält die Maßnahmen für notwendig und die Risiken für hoch: „Der Umbau des Vertriebssystems kann zu Friktionen auf Jahre hinaus führen“, vor allem wenn die Verbindung neuer Vertriebswege – Shops und Internet – mit dem Direktvertrieb „nicht optimal gelingt“.
Vorwerk ist seit der Vorkriegszeit auf Direktvertrieb spezialisiert. Eigene Fabriken stellen heute vor allem in Wuppertal die Staubsauger, im französischen Cloyes den Thermomix und im mexikanischen Querétaro Kosmetika her. Rund 11.000 Mitarbeiter beschäftigt Vorwerk fest. Hinzu kommen weitere 11.000 beim ebenfalls der Eigentümer-Familie Mittelsten Scheid gehörenden Gebäudedienstleister Hectas, der seit vergangenem Jahr als Vorwerk Facility Management Holding eigenständig agiert.
Rund 600.000 selbstständige Handelsvertreter verkaufen die Produkte des Mischkonzerns, der in der öffentlichen Wahrnehmung meist auf Staubsauger reduziert wird. So macht Vorwerk – ohne Hectas – 2012 rund 2,4 Milliarden Euro Umsatz und spart die Margen, die andere Konsumgüterhersteller an Groß- und Einzelhandel abgeben. Angesichts der zweistelligen Renditen im Direktvertrieb müsste ein Gewinn vor Steuern von über 200 Millionen Euro übrig bleiben.
Küchenmaschine als Unternehmensretter
Wie substanziell die Probleme nun sind, wird kaum wahrgenommen, weil andere Standbeine den Absturz im Stammgeschäft ausgleichen. Gewinngaranten sind der Staubsauger-Vertrieb in Italien, wo die Geräte als Folletto – so heißt Kobold auf Italienisch – verkauft werden, die in Mexiko starke Kosmetiksparte Jafra, die seit 2004 zum Konzern gehört, und vor allem Helens kochende Küchenmaschine. Thermomix trägt mehr zum Gewinn bei als jeder andere Bereich und dürfte bald mehr Umsatz erwirtschaften als die Staubsauger. Die Bestzahlen von 2010 und 2011 wollen die persönlich haftenden Gesellschafter Walter Muyres und Reiner Strecker nochmals toppen: „2012 wird voraussichtlich das dritte Geschäftsjahr in Folge mit einem Rekordumsatz und Rekordgewinn“, prognostiziert Strecker.
Gleichzeitig aber schafft die unvermeidliche Runderneuerung von Vertrieb und Marke neue Probleme. Die Vertriebler arbeiten nach einem veränderten Organisationsprinzip, mit dem viele hadern. „Die Stimmung ist miserabel“, berichtet ein Insider. Und selbst in der Thermomix-Vertriebsmannschaft soll es rumoren, weil Shops und Internet-Verkauf mit ihren Interessen kollidieren. Zudem legt die Beratung McKinsey im Oktober ein Restrukturierungsprogramm für Vorwerk vor, das auch auf Stellenabbau hinauslaufen dürfte.
Den Grund für den radikalen Wandel, der vom Staubsaugerbereich ausgeht, beschreibt Unternehmenspatriarch Jörg Mittelsten Scheid so: „Heute sind immer weniger Frauen tagsüber zu Hause“, sagt der Beiratsvorsitzende. „Unsere Berater mussten immer längere Wege zurücklegen, bis sie Kundinnen antrafen. Daher reichte ihr Einkommen nicht mehr aus.“ „Da hätte man auch ein bisschen früher drauf kommen können“, trauert Andreas Jatzkowski, Chef des Konzernbetriebsrats, verlorenen Jahren hinterher. Die verantwortlichen Manager seien zu lange selbst aus dem Direktvertrieb gekommen: „Die kannten nichts anderes.“
Es knirscht gewaltig
Selbst Marketingchef Berger ätzte bei der Marketing-Fachkonferenz CXI im Juni in Mainz: „Diese Firma war 80 Jahre auf einen Vertriebsweg fokussiert: den über Handelsvertreter an der Haustür oder über Party-Systeme. Die ganze Welt außerhalb dieser Vertriebswege ist unter unserem Radarschirm durchgeflogen, wir haben sie einfach ignoriert.“ Nun ist Vorwerk auf dem Weg in die Moderne. Da das Unternehmen aber eigentlich so reformfreudig ist wie der Vatikan, knirscht es gewaltig in der Welt von Kobold, Folletto und Bimby – so heißt der Thermomix in Südeuropa.
Größtes Problem: Die berühmt-berüchtigten Staubsaugervertreter, denen Loriot mit einem Sketch ein Denkmal setzte („Es saugt und bläst der Heinzelmann, wo Mutti sonst nur blasen kann“), fürchten finanzielle Nachteile und interne Konkurrenz durch das neue Vertriebskonzept. Denn damit aus den hausierenden Verkäufern respektable Repräsentanten werden, weist das Unternehmen ihnen seit 2011 feste Vertriebsgebiete zu. Ihre alten Stammkunden außerhalb dieser Zonen verlieren die Vertreter an Kollegen. Manche der Altvorderen irritiert auch die Vorgabe, nicht mehr einfach an der Haustür zu klingeln, sondern Vorführtermine per Telefon auszumachen. Telefonakquise mussten die Vertreter bisher nie beherrschen.
Wegen der immer schlechteren Geschäfte sank die Zahl der einst 6.000 Kobold-Vertriebler bis 2011 auf 2250. Jetzt gelang es immerhin, sie wieder um 250 zu steigern. Jüngere Vertriebsprofis nehmen das reformierte Vorwerk-Konzept eher an. Die alten Hasen aber reagieren allergisch darauf, dass ihr Vertriebsweg die Exklusivität verloren hat und Verkäufe über das im Aufbau befindliche Ladennetz und über den Online-Shop an ihnen vorbeigehen.
Unzufriedene Vertreter
„Denen geht der Arsch auf Grundeis“, sagt ein Kenner der Szene. Um die Vertreter ruhigzustellen, erhalten sie für Verkäufe in den neuen bisher 20 „Vorwerk-Stores“ – für die sie nichts geleistet haben – reduzierte Provisionen und die Kundenadressen. Aber wenn Shop-Kunden keine Auslieferung durch den Vertreter und keine Vorführung bei der Auslieferung wünschen, weiß am Ende keiner, aus welchem Vorwerk-Vertriebsgebiet der Käufer kommt. Dann bekommt kein Vertreter die Provision. Das passiere in weniger als drei Prozent der Verkäufe in den Shops, beteuert Manager Muyres: „Wir achten darauf, dass sich die drei Vertriebswege nicht gegenseitig kannibalisieren.“ Zehn Prozent der Berater-Crew stünden den neuen Vertriebsformen „skeptisch gegenüber“, gibt Muyres zu. Klingt wenig. Ein Insider aber verrät: „Rund 20 bis 30 der Vertreter-Haudegen bringen 50 bis 60 Prozent des Umsatzes. Wenn die nicht mehr mitziehen, wirkt es sich überproportional aus.“
Es rumort aber auch im Thermomix-Vertrieb. Denn auch die Küchengeräte werden in den Vorwerk-Geschäften präsentiert. In den meisten – etwa im rheinischen Neuss – verweigert das adrett uniformierte Verkaufspersonal allerdings strikt die Herausgabe der Küchenmaschinen und versucht, den Kunden zur Kontaktaufnahme mit der Gebietsrepräsentantin zu drängen. Eine Order von oben. Wer sich aber zum Direktvertrieb schicken lassen will, dem wird – als hätte Loriot erneut zugeschlagen – das Gerät nicht verkauft. Außer in Hamburg und Essen – offenbar ein Test.
Ende 2011 wurde in Hamburg der erste Vorwerk-Laden als Flagship-Store eröffnet. Muyres gibt zu, der deutschlandweite Ausbau auf 120 Filialen gelinge nicht bis 2014, sondern werde noch „einige Zeit dauern, so bis 2016“. Ob das nun, wie der Manager erklärt, an der schwierigen Suche nach Standorten liegt oder doch an den seltsamen Kompromissen mit dem Vertrieb – das Ergebnis ist fatal. Vorwerk Alt wirkte anachronistisch, Vorwerk Neu chaotisch – das aber konsequent. So präsentieren sich ein von Fachmagazinen hoch gelobter Saugroboter und ein 129 Euro teurer Akku-Krümelsauger in coolem Design. Dagegen wirkt der Kobold, der in der einfachsten Version ab 378 Euro zu haben ist, altbacken.
Limetten- statt Dunkelgrün
„Eine vier- bis fünfjährige Phase für die Einführung eines modernen und einheitlichen Corporate Designs aus einem Guss ist eigentlich zu lang“, sagt Jochen Rädeker über den Vorwerk-Zeitplan. Der Chef der Markendesign-Agentur Strichpunkt in Stuttgart und Präsidiumssprecher des Art Directors Club Deutschland meint: „Eine Umsetzung in der Hälfte der Zeit wäre aus reiner Marketingsicht besser.“
Rädekers Agentur zeichnet verantwortlich dafür, von der Visitenkarte bis zum Verpackungsmaterial, vom Firmenlogo bis zum Folletto-Sauger den Vorwerk-Auftritt weltweit neu und einheitlich zu gestalten. „Bei der über Jahrzehnte in 80 Ländern genutzten Marke Vorwerk ist einiges an Wildwuchs entstanden“, sagt Rädeker. Das firmentypische Dunkelgrün wird nun auf den modernen Geräten ersetzt durch ein frisches „Limettengrün“, wie es Rädeker nennt, dazu kommen viel Weiß und Silber.
Qualität als Trumpf
Neuer Markenauftritt und zeitgemäßes Vertriebskonzept gehören zusammen, wenn sich Vorwerk als „Dachmarke für technisch und qualitativ überlegene Haushaltsgeräte“ etablieren will, wie Marketingchef Berger sagt. Doch auch manche Länderchefs stehen zumindest einem Teil der Pläne der Wuppertaler Vorturner skeptisch gegenüber. Italien-Lenker Patrizio Barsotti etwa soll sich mit Kobold-Sparten-Chef Jörg Körfer eine lautstarke Auseinandersetzung darum geliefert haben, in welchem Maß in Italien Vertriebsreformen notwendig sind. Tatsächlich erreicht Barsotti glänzende Ergebnisse mit seinem Folletto – mit der Haustür-Methode, von der sich die Deutschen gerade verabschieden. Also gibt es in Italien keinen Internet-Auftritt, obwohl Chef Muyres Interesse an der Handelsform hat. Internet und Shop zusammen erwirtschaften jetzt auch bei Vorwerk schon 15 Prozent des Sauger-Umsatzes.
„Zu 70 Prozent ist der Umbau des deutschen Kobold-Vertriebs und der Marke Vorwerk geschafft“, sagt Muyres und verkündet Positives: Erstmals seit 2008 werde die deutsche Staubsaugersparte 2012 wieder schwarze Zahlen schreiben, der Umsatz liege rund zehn Prozent über Vorjahr. In den kommenden Monaten wird in Wuppertal sogar eine neue Produktionsstraße für Thermomix-Messer eingerichtet, weil der Verkauf der Geräte weiter boomt.
Ist die Krise überwunden?
Auch alle anderen Sparten seien profitabel. Dazu gehören die akf-Bank, die Ratenzahlungen für Staubsauger und Thermomix-Geräte finanziert und exklusiver Finanzierungspartner der Automarken Aston Martin und McLaren in Deutschland ist. Geld verdienen auch die Vorwerk Teppichwerke mit einem Marktanteil von mehr als 20 Prozent im deutschen Markt. Sie liefern alle Teppiche für die ICE-Züge.
Alles also wieder im Vorwerk-grünen Bereich? Nein, bald dürften sich in Wuppertal weitere Fragen und Sorgen breitmachen. Patriarch „Dr. Jörg“ läutet jetzt mit 76 Jahren seinen Rückzug von der Beiratsspitze ein, ohne dass die Familie einen Nachfolger aus ihren Reihen benennen kann. Und ein hartes Stück Reformweg steht noch bevor: Im Oktober legen die McKinsey-Berater, die seit einem Vierteljahr im Haus sind, die Karten auf den Tisch. „Wir müssen effizienter werden“, erklärt Gesellschafter Strecker den McKinsey-Auftrag. Zudem gehe es darum, „die Organisation auf neue, strategische Herausforderungen vorzubereiten“. Kündigungen drohen.
Am Ende der Party in Unterbilk war Helens Stimmung auch schon mal besser. Ein prickelndes Sorbet, Rohkostsalat mit Brokkoli, pikante Dips, Reis und dampfgegartes Gemüse hat die Runde mit dem raspelnden und röhrenden Thermomix fabriziert und verspeist. Aber was nicht ausbrechen will, ist die erhoffte Kauffreude. Emil findet den Thermomix zu groß. Jemand philosophiert, das Gerät koste so viel „wie ein iPhone mit viel Speicher, würde mich aber nicht so glücklich machen“. Eine der Kerstins immerhin überlegt, die vegetarischen Pasten, die sie im Bioladen kauft, künftig mit so einer Maschine selbst zuzubereiten. Ob sich einer aus der Runde noch bei Helen melden wird? Die Nebenerwerbs-Vertreterin ist skeptisch. Rund 80 Partys schafft die 41-Jährige, die einen Teilzeit-Bürojob hat, pro Jahr. Bei jeder zweiten bis dritten Party hat sie Erfolg.