Schon kurz nach 6 Uhr morgens warten die ersten Kamerateams vor dem grünlichen Fünfziger-Jahre-Bau. Wenig später geht es abwärts - ins Untergeschoss des Landgerichts Stuttgart. Kurz nach 8 Uhr werden die Schleusen zum Verhandlungssaal 18 geöffnet. Drinnen, in dem niedrigen Raum mit grauem Bodenbelag, baut sich prompt eine Wand von Kameras und Fotografen vor dem Halbrund des Verhandlungsbereichs auf. Dabei gibt es zunächst wenig zu sehen: Eine Strafprozessordnung ziert den Tisch eines Verteidigers und avanciert mangels Alternativen zum Fotomotiv. Schleckers Verteidiger Norbert Scharf plaudert mit seinen Co-Anwälten. Auch eine Handvoll Schleckerfrauen hat es in den rappelvollen Saal geschafft, darunter Christel Hoffmann, die frühere Betriebsratsvorsitzende von Schlecker.
Um Punkt 9 Uhr kommt Bewegung in die Zuschauerschar: Anton Schlecker, seine Frau Christa und die beiden Kinder Lars und Meike betreten den Saal. Anton Schlecker, einst für seine bunten Oberhemden bekannt, kommt im schwarzen Anzug. Mit schlohweißem Haar wirkt er gealtert, seine Frau mit blonder Mähne fast unverändert.
Die Kameras klicken, Zuschauer erheben sich. Richter Roderich Martis eröffnet den wichtigsten Wirtschaftsstrafprozess des Jahres. Der wird sich lange hinziehen, möglicherweise bis ins kommende Jahr, glauben Experten. Klein beigeben will Schlecker nicht so schnell. Er lässt alle Vorwürfe zurückweisen.
Doch wer spielt in dem komplexen Fall welche Rolle? Wer entscheidet über Wohl oder Wehe des Drogistenclans? Die Protagonisten des Schlecker-Prozesses im Überblick:
Die Angeklagten
Hauptangeklagter ist Drogeriepleitier Anton Schlecker. Ihm werden vorsätzlicher Bankrott, Meineid sowie das Beiseiteschaffen von Vermögenswerten in 36 Fällen vorgeworfen. Er hatte einst das Schlecker-Imperium aufgebaut - und später maßgeblich zu dessen Niedergang beigetragen.
Selbst die meisten der europaweit rund 55.000 Mitarbeiter kannten ihren Chef nur von einem Uralt-Foto aus der Mitarbeiterzeitung: Das Haar akkurat gestutzt, im Hemd mit flirrendem Muster posierte er darauf Seit‘ an Seit‘ mit Gattin Christa vor einer Europaflagge. Der Begleittext kündete von der „innovativen und expansiven Unternehmenspolitik“.
1965, mit 21 Jahren hatte Anton Schlecker als jüngster Metzgermeister Baden-Württembergs in der familieneigenen Fleischerkette angeheuert und schnell bemerkt, dass sich mit Shampoo und Spüli mehr verdienen ließ als mit Schinken und Jagdwurst. Er baute das Geschäft aus und trug den weißen Schlecker-Schriftzug auf blauem Grund bis in die hintersten Winkel der Republik.
Stationen der Schlecker-Insolvenz
Schlecker meldet Insolvenz an.
Das Verfahren wird eröffnet. Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz hofft noch auf die Rettung von Teilen der Drogeriekette.
Es wird bekannt, dass Anton Schlecker sein Privathaus im Wert von zwei Millionen Euro vor der Insolvenz an seine Frau übertragen hat. Ein zweites Grundstück soll sein Sohn bekommen haben.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart leitet ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Untreue, Insolvenzverschleppung und Bankrott gegen Anton Schlecker ein.
Die Schlecker-Gläubiger fordern mehr als eine Milliarde Euro.
Der österreichische Investor Rudolf Haberleitner will 2013 bis zu 600 ehemalige Schlecker-Filialen mit dem Konzept eines modernen Tante-Emma-Ladens wiederbeleben.
Gut ein Jahr nach der Pleite zahlt die Familie Schlecker dem Insolvenzverwalter 10,1 Millionen Euro. Hintergrund ist der Streit um übertragenes Vermögen aus dem Unternehmen.
Haberleitner will einstige Schlecker-Filialen unter dem Namen Dayli wiederbeleben und Testläden in Deutschland eröffnen.
Noch vor dem geplanten Deutschland-Start ist der Schlecker-Nachfolger Dayli pleite.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart erhebt Anklage gegen Anton Schlecker wegen vorsätzlichen Bankrotts.
Der Insolvenzverwalter reicht Klage gegen ehemalige Schlecker-Lieferanten ein. Sie sollen Schlecker wegen illegaler Preisabsprachen um viel Geld gebracht haben. Geiwitz will Schadenersatz in Millionenhöhe.
Es wird bekannt, dass das Landgericht die Anklage zulassen will. Der Schlecker-Prozess soll im März 2017 beginnen.
Der Prozess vor dem Landgericht Stuttgart beginnt.
Staatsanwalt Thomas Böttger fordert für Anton Schlecker drei Jahre Haft. Lars Schlecker soll nach dem Willen der Staatsanwälte zwei Jahre und zehn Monate in Haft, Meike zwei Jahre und acht Monate. Die Verteidigung hält die Forderungen für „überzogen“, nennt aber selbst kein empfohlenes Strafmaß.
Das Urteil des Landgerichts Stuttgart ist am Ende doch eine Überraschung: Anton Schlecker muss nicht ins Gefängnis. Das Gericht verurteilte den 73-Jährigen wegen vorsätzlichen Bankrotts zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe von 54.000 Euro. Schleckers Kinder Lars (46) und Meike (44) wurden dagegen zu Haftstrafen von zwei Jahren und acht Monaten beziehunsgsweise zwei Jahren und neun Monaten verurteilt, unter anderem wegen Insolvenzverschleppung, Untreue und Beihilfe zum Bankrott.
„Wenn du in den Urlaub fährst“, spotteten Handelsleute damals, „dann schließ die Wohnungstür gut ab, sonst sitzt der Schlecker drin, wenn du wiederkommst“. Der Seifenkönig von der schwäbischen Alb nahm so ziemlich alle Standorte, die er kriegen konnte – und die niemand anders wollte. Hauptsache die Miete war niedrig. Dass Rivalen wie dm und Rossmann lieber größere Märkte in hochfrequentierten Fußgängerzonen eröffneten als auf dem Dorfanger in der Provinz zu siedeln, interessierte ihn nicht. Solange die Umsätze stiegen, schien das System ja zu funktionieren.
Doch ab dem Jahr 2000 zeigten sich erste Risse. Mit ihren lichten und großzügigen Märkten saugten die Wettbewerber Schleckers Kundenströme auf wie Schwämme - ein Niedergang begann, der zur Pleite führte. Im Falle eines Schuldspruchs drohen dem heute 72-jährigen Ex-Milliardär bis zu zehn Jahre Haft.
Mit auf der Anklagebank sitzen Schleckers Ehefrau Christa sowie die Kinder Lars (45) und Meike (43). Alle drei sollen sich der Beihilfe schuldig gemacht haben, Lars und Meike Schlecker zudem der Untreue sowie der Insolvenzverschleppung.
Auch zwei Wirtschaftsprüfer sind angeklagt. Ihnen werfen die Strafverfolger vor, falsche Bilanzierungen im Schlecker-Reich zwar erkannt, aber trotzdem attestiert zu haben, dass ihre Prüfung zu keinen Einwänden geführt habe. (Die Vorwürfe im Detail.)