
WirtschaftsWoche: Herr Professor Christ, unsere Innenstädte erleben eine Renaissance. Die Bürger entdecken Straßen und Plätze wieder als Bühnen des urbanen Lebens. Eine gute Nachricht für Bürgermeister, Architekten und Handel?
Wolfgang Christ: Ja, das ist eine bemerkenswerte Entwicklung, ein radikaler Paradigmenwechsel hin zu einer neuen urbanen Dichte, wie wir sie aus dem späten 19. Jahrhundert kennen. Vorbild ist die Stadt der Gründerzeit mit ihren Boulevards, Plätzen und Parkanlagen. In dieser Zeit sind die kulturellen Ressourcen angelegt worden, von denen unsere Städte heute noch zehren: Theater, Museen, Schulen, Bahnhöfe und eben auch Warenhäuser. Wer heute „in die Stadt geht“, geht vor allem Einkaufen.
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Und trotzdem wird immer wieder infrage gestellt, ob ein Shopping Center in die Mitte der Stadt oder eines Stadtteils gehört.
Ich glaube, darin drückt sich ein grundsätzlicher Konflikt zwischen Tradition und Moderne aus. Unsere Altstädte sind ja immer Marktplätze gewesen, der Handel hat über Jahrhunderte den Fortschritt in die Mitte der Stadt getragen. Aber mit dem Warenhaus und erst recht mit dem Shopping-Center sind abgeschlossene, geradezu autistische Großformate ins urbane Zentrum gekommen, deren Flächenverbrauch kaum vereinbar ist mit der Feinmaschigkeit der traditionellen Stadt. Das mobilisiert immer noch Widerstand. Und in einer Zeit des beschleunigten Wandels wird die Mitte zu einem emotionalen Anker, den es zu verteidigen gilt. Eigentlich erwarten wir, dass in der Innenstadt alles so bleibt, wie es ist.
Das Vordringen der Shopping-Center wird vor allem als Angriff auf den Einzelhandel verstanden...
...und gleichzeitig legen darin – wohl aus guten Gründen – die Versicherungen oder Fondsgesellschaften von Sparkasse und Volks-und Raiffeisenbank bevorzugt die Ersparnisse und Rentenbeiträge ihrer Kunden an. Es ist an der Zeit, ein altes Vorurteil auf den Prüfstand zu stellen. Richtig ist: Heute werden neun bis zehn Prozent des Einzelhandelsumsatzes in Shopping-Centern generiert. Und zwar von unabhängigen Einzelhändlern, die Center für ihre Verkaufsstrategie nutzen. Projektentwickler addieren im Grunde die Vorgaben der Unternehmen, die sie auf ihre Plattform aufnehmen. Damit das funktioniert, brauchte es bisher mindestens zwei große Frequenzbringer, in Deutschland waren das anfangs Warenhäuser, dann vor allem Elektromärkte und Textilwarenhäuser. Dazwischen tummelten sich rechts und links der Mall die kleineren Läden.

Dieses Konzept ist passé?
Es ist brüchig geworden. In den Niederlanden, vor allem aber in den USA und Großbritannien ist man deshalb auf der Suche nach neuen Ankern. Immer mehr weiche Faktoren prägen die Shopping Center: Die großen Verkaufsflächen bleiben, doch es entstehen Plätze und parkähnliche Anlagen, die das Gemeinschaftsgefühl ansprechen. Nach dem Motto „Alle unter einem Dach“ wird das Center, auch wenn ein Dach gar nicht mehr angeboten wird, zum Treffpunkt: vormittags für die Rentner, Jugendlichen und Familien, nachmittags und abends dann für die Zwanzig- bis Vierzigjährigen, die mit ausgefeilten Gastronomiekonzepten, üppig ausgestatteten Kinopalästen und immer neuen Events gelockt werden. Die Anker des postmodernen Shopping Center sind Marktplätze der Atmosphären und Emotionen.
Disneyland-Nostalgie?





Sind solche Center noch als Shopping Center erkennbar?
Immer weniger, Americana at Brand in Glendale bei Los Angeles oder Liverpool One sind im Grunde Stadtquartiere. Es sind zwar immer noch Center, aber zugleich ist Stadt überall präsent. Wir nennen diesen Typ Stadt-Center und sehen darin ein neues Handelsformat für die urbane Mitte. Liverpool zum Beispiel knüpft mit einer teilweise monumentalen Bebauung an die im Krieg zerstörte Baukultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an. Das Quartier ist durchzogen von einem filigranen System von Straßen, Wegen und Plätzen und Grünanlagen, die einzelnen Blöcke tragen individuell gestaltete Fassaden, die Anleihen bei Gründerzeit, Art déco und Nachkriegsmoderne machen. Stadt und Center tun alles, um nicht mehr als Fremde voreinander da zu stehen.
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Reiner Kulissenzauber?
Wenn das auch für die Pariser Oper oder für Alfred Messels großartige Warenhausarchitektur am Leipziger Platz in Berlin gilt, dann kann ich damit leben. Da wird auch Stadt über Geschichte und entsprechende Bildbotschaften inszeniert. Stadt-Center wie das The Grove in Los Angeles arbeiten gezielt mit dem Stilmix der gründerzeitlichen Downtown, mit parzellenartigen Hauseinheiten, axialen Straßenperspektiven, Gassen, mit Brunnen, Denkmälern und Gärten. Was spricht dagegen?
Klingt nach Disneyland-Nostalgie.
Mag sein, aber diese Stadträume gefallen den Menschen. The Grove hat Disneyland in Annaheim mit über 20 Millionen Besuchern als meistfrequentiertes Ziel in Kalifornien abgelöst. Die offenen Center sind in den USA auch Spielplätze des Urbanen. Sie animieren die Bewohner von Suburbia dazu, das Leben in der Stadt wieder Schritt für Schritt als etwas Lebenswertes zu entdecken und die Angst vor baulicher Dichte und – das wundert uns als Europäer sicher – vor ‚der Straße’ zu verlieren.

Eine Rückkehr zu den Qualitäten der alten, kompakten Stadt?
Ja, nehmen Sie das Americana at Brand: Da lebt nicht nur die Boulevardkultur auf, es sind auch rund 500 Wohneinheiten oberhalb der Verkaufsflächen als Eigentums- und Mitwohnungen entstanden. Oder Southgate im südenglischen Bath. Die City gehört zum Weltkulturerbe, das Center passt sich durchgehend der Formensprache der bestehenden Stadt aus dem 18. Jahrhundert an, sonst wäre es nicht genehmigt worden. Zwischen den Blöcken sind offene Straßenräume für Fußgänger und Radfahrer, mit Eingängen im Erdgeschoss, die zu den Läden und den insgesamt hundert Wohneinheiten in den Obergeschossen führen.
Warum wird so etwas in Deutschland nicht gebaut?
Es gibt Ansätze. Etwa die Höfe am Brühl der mfi in Leipzig oder das geplante Stuttgarter Center der ECE, das aus mehreren Blockeinheiten bestehen wird, mit Plätzen dazwischen und zahlreichen Wohnungen in den Obergeschossen.
Deutsche Projekte





Warum sperren sich die Projektentwickler in Deutschland gegen eine stärkere Öffnung der Center hin zum öffentlichen Raum?
Weil die Grundstücke oft zum spekulativ höchsten Preis erworben werden, die Verkaufsfläche entsprechend maximiert werden muss und sie angesichts der relativ niedrigen Renditen im Einzelhandel die Wirtschaftlichkeit dieser offenen Strukturen in Zweifel ziehen. Und weil mit den deutschen Städten keine so enge strategische Partnerschaft zustande kommt, wie das in Großbritannien und in den USA der Fall ist.
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Was machen die britischen Städte anders?
Sie verstehen den Handel als das stärkste Vehikel, um die Innenstädte zu entwickeln. Da werden frühzeitig Leitbilder entwickelt, die sich dann auch im Projekt des Developers wiederfinden. Städte wie Liverpool oder Bath wussten von Anfang an: Wir wollen ein gegliedertes Quartier, das Wohnen, Arbeiten und Einkaufen verbindet und attraktiv ist für die night economy, so dass die City auch nachts lebt. Außerdem müssen die Städte das Grundstück, das ihnen oft ganz oder zum Teil gehört, nicht zum Höchstpreis an den Projekt-Entwickler verkaufen. Im Gegenteil, es kann in Erbpacht gegeben werden, wobei die Pachtsumme vom Umsatz der Einzelhändler abhängt. Wenn die kein Geld verdienen, geht auch die Stadt leer aus. Das motiviert die öffentliche Seite zusätzlich und entlastet den Center-Entwickler. In einem Fall in den USA baute der Developer eine neue Downtown auf einem brachgefallenen Centerareal, das die Kommune für 1 Dollar abgegeben hat.

Und wenn es Immobilienbesitzer gibt, die nicht verkaufen wollen?
Dann können sie enteignet werden, vorausgesetzt, das Projekt ist im öffentlichen Interesse! Das heißt: Die Stadt tritt dem Projektentwickler als starker, durchsetzungsfähiger Partner gegenüber, der den gesamten Planungsprozess im Griff hat, die Bürger permanent mitreden und – das ist entscheidend – mit entscheiden lässt. Und wenn dann auch noch genügend Verkaufsfläche dazu kommt, in Bath etwa rund fünfzigtausend Quadratmeter, und ein effizientes Planungs- und Baurecht greift, dann vergehen vom Auftrag bis zur Fertigstellung nur fünf, sechs Jahre. Zum Vergleich: In Deutschland dauert so etwas gut zehn Jahre.
Haben die deutschen Städte ihre Hausaufgaben nicht gemacht?
Sie haben oft weder ein Leitbild für die Gesamtstadt, noch einen konkreten Masterplan für die Innenstadt. Sobald ein Projektentwickler Interesse an einem Grundstück anmeldet, führt das zu einer merkwürdigen Zweikampfsituation, bei der die Städte sich tendenziell in der schwächeren Position fühlen, weil sie erst dann beginnen, ihre eigene Position zu klären. Viel gescheiter wäre es, selber bei Zeiten Perspektiven zu entwickeln, die zeigen, warum es sich lohnt, in der Innenstadt zu investieren, welche begleitenden Maßnahmen und Projekte von Seiten der Stadt, aber auch von Privaten zu erwarten sind. Das gäbe dem Investor, der garantiert mit oft 100 und mehr Millionen Euro die größte Summe von allen aufbringen muss, die notwendige Sicherheit, dass sich sein Investment in einem kontrollierten städtebaulichen Umfeld entwickelt und sich Qualität auch in der Rendite widerspiegeln wird.
Die Unverwechselbarkeit einer Stadt

Ihr Urban INDEX Institut hat im Auftrag des Projektentwicklers ECE für die ostwestfälische Stadt Minden einen Rahmenplan entwickelt, der Innenstadt und Centerentwicklung zusammenführt. Warum braucht Minden so einen Center?
Weil die Stadtverordneten das nahezu einstimmig angesichts des aktuell leerstehenden Karstadt-Warenhauses und weiterer dringend modernisierungsbedürftiger Handelsimmobilien drum herum so beschlossen haben. Es gibt in Minden zahlreiche leerstehende Wohnungen in der Altstadt, der Einzelhandel verliert Verkaufsflächen und Umsatz. Es gibt immer weniger Läden des mittleren und gehobenen Bedarfs und ganze Warengruppen sind nicht adäquat vertreten. Die benachbarte Händlerschaft wartet darauf, dass es endlich losgeht, denn ein Center würde ihnen die Gewähr bieten, dass die Laufkundschaft zurückkehrt. Im Moment sieht es so aus, als würde das Vorhaben scheitern, weil die Immobilien, die der Entwickler erwerben muss, um das Projekt zu entwickeln, wohl zu teuer sind.
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Wo kaufen die Mindener stattdessen ein?
Viele wohl in anderen Städten und natürlich auf der grünen Wiese. Die Stadt ist von Fachmarkt-Centern umgeben. Hinzu kommt der wachsende Anteil des Online-Handels, der auch Minden verändern wird. Denn alles, was digitalisiert werden kann, wird in Zukunft digitalisiert werden, auch im Handel. Das heißt für unsere Städte und für den Einzelhandel, dass sie nur dann eine Chance haben, wenn sie Qualitäten anbieten, die nicht digitalisierbar, also exklusiv sind: Atmosphäre, Authentizität, Aura.

Was ist authentische Handelsarchitektur im Zeitalter der Digitalisierung?
Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen! Genau darum geht es ja: Was ist nach dem Warenhaus und dem Shopping Center die erfolgversprechende Baukultur des Konsums der Zukunft? Was wird von beiden Typologien bleiben? Städte leben von der Unverwechselbarkeit ihrer Lage, ihrer Geschichte und Geschichten. Alles spiegelt sich in Architektur und Städtebau. In Minden haben wir versucht, diesen Stadtwert als eine einzigartige analoge Qualität mit Hilfe des Rahmenplans herauszuarbeiten.
Was sieht dieser Rahmenplan vor?
Das Außergewöhnliche ist sicherlich, dass wir uns vor allem darum bemühen, das Center als Quartiersbaustein und Impulsgeber für die ‚Renaissance der Mitte’ in Minden zu positionieren. Wir führen die vorhandene und die zukünftig benötigte Stadtqualität der gesamten Innenstadt vor Augen. Eine Wohnungsbauoffensive auf den innerstädtischen Brachflächen gehört dazu. Straßen und Wege sollen wieder zum Bummeln einladen. In Bristol hat man gezeigt, wie das geht: Das neue Fuß- und Radwegenetz schafft eine perfekte Anbindung aller Stadtteile an die Innenstadt. Ein Shopping Center sollte einen Wandel zum Besseren im weitesten Sinne auslösen.
Vom Sein und Nicht-Sein unserer Städte





Aber auch die britischen Innenstädte sind durch den Online-Handel in die Defensive geraten.
Richtig, sogar ungleich stärker als bei uns, in England investiert kaum noch jemand in neue Läden. Einer von sieben Läden steht leer. 40 Prozent der noch vorhandenen gelten als in ihrer Existenz bedroht. Die Lage ist dramatisch. Der Premierminister kümmert sich persönlich darum. Aber gerade die Beispiele in Liverpool, Bath und Bristol zeigen, dass sich Stadtqualität gegen Online behaupten kann. Überall da, wo es den Städten gelingt, ihre analoge Identität zu bewahren oder zu rekonstruieren, hat Einzelhandelsqualität eine Zukunft. Handelskultur muss sich wieder in Stadtkultur einschreiben. Wenn Handel erst einmal verschwunden ist, kommt er nie wieder in die Innenstadt, dann sind tausend Jahre Stadtidentität dahin. Da können sie noch so viele Starbucks bauen oder Urban-Gardening-Projekte anleiern. Ohne den Handel sind unsere Städte tot. Dessen ist man sich in Großbritannien mittlerweile – anders als bei uns – bewusst.
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Wenn es um Sein und Nicht-Sein unserer Städte geht – warum wird so wenig darüber debattiert?
Das frage ich mich auch. Wir diskutieren seit Jahren über Gentrifizierung, ökologisches Bauen, den Klimawandel und die Energiewende, aber ein Diskurs um Urbanität und Stadtentwicklung, um die Frage, wie wir eigentlich leben wollen, kommt nicht wirklich in Gang. Dabei liegt der Schlüssel zu vielen ernsten Themen in einer ‚Stadtwende’.
Was meinen Sie damit?
Der Streit über Shopping Center wäre produktiver, wenn wir über den doch vergleichsweise begrenzten Raum hinaus zum Beispiel alle Handelsformate auf den Prüfstand ihrer Stadtverträglichkeit stellen würden. Dann käme heraus, dass 9 Millionen Quadratmeter Centerfläche auf rund 2 bis 3 Millionen Quadratmeter Grundstücksfläche passen, 35 Millionen Quadratmeter Fachmarktflächen aber rund 100 Millionen Quadratmeter Land verbrauchen. Das sind 100 Quadratkilometer! Nur, die sind eher am Ortsrand und in der Zwischenstadt. Da schaut aber keiner hin. Und schön ist es da auch selten.