Ausverkaufsberater „Rabatte wirken wie Kokain“

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20 Prozent auf alles

„Mit steigendem Rabatt sinkt tendenziell leider auch das Niveau der Kunden“, sagt Sigg. Teils führten sie sich auf „wie die Wildschweine“, würden Ware vom Bügel reißen, Preisetiketten vertauschen und um höhere Rabatte feilschen. Er habe Käufer erlebt, die hätten bei den XXL-Hemden zugeschlagen, obwohl sie kaum 50 Kilo wogen. Irgendetwas passiere da im Kopf, ist er sich sicher, „Rabatte wirken wie Kokain“. Die Frauen kichern. Sigg meint es ernst.

Als der Laden drei Tage später öffnet, ist das Geschäft nicht wiederzuerkennen. Die Schaufenster sind zugepflastert mit Plakaten: „Alles ist reduziert!“, ist darauf zu lesen. „Totalräumungsverkauf – wir schließen!“. Oder schlicht: „%“.

Kleidung, Schuhe und Sportartikel hängen jetzt an den Metallstäben, zusätzliche Umkleidekabinen stehen bereit. Vor der Kasse hat Sigg eine textile Quengelzone aufbauen lassen. Statt Schokoriegeln und Kaugummis wie im Supermarkt gibt es dort „Socken und andere Basics, die man immer braucht“. Überall im Geschäft werben leuchtend rote Fähnchen mit dem Schlachtruf: „Alles muss raus“.

Wie einst bei der Baumarktkette Praktiker gibt es zum Start „20 Prozent auf alles“. Bei Produkten, auf denen Sterne oder Smileys pappen, sind es 30 und 50 Prozent Rabatt. Sie werden am Anfang nur vereinzelt eingesetzt. Denn in der Startphase gehe es nicht darum, den Laden leer zu bekommen, sondern darum, „dass Ertragspotenzial auszuschöpfen“, sagt Sigg.

Im Vorfeld hat er Kauderer gebeten, bei seinen Lieferanten noch zusätzliche Ware zu bestellen. Hoodies, Socken, Wanderschuhe, selbst Reisekoffer werden in rauen Mengen angekarrt. Sigg will die Aufmerksamkeit für den Ausverkauf nutzen, um den Umsatz nach oben zu treiben.

Artikel, die gut laufen, werden so lange nachbestellt, bis der Absatz bröckelt. Erst wenn der Kundenansturm nachlässt, zündet er die nächste Rabattstufe, erhöht den Basisabschlag auf 30 Prozent, gibt auf einzelne Artikel 40 oder 50 Prozent Nachlass und lockt damit neue Schnäppchenjäger. Dann kommt 40/50/60. Der Zeitpunkt hängt von den Verkaufszahlen ab. „Rabatte brauchen eine Dramaturgie“, sagt Sigg.

Immer tiefer würden die Preise sinken. Aber erst zwei, drei Tage bevor der Laden tatsächlich geräumt werden muss, touchiert er schließlich die 70-Prozent-Marke.

Schon zum Start herrscht ein Andrang, wie ihn die Kauderers lange nicht erlebt haben. Stammkäufer schauen rein, bedauern, dass der Laden schließt und greifen beherzt zu. Kunden, die bislang bei der Konkurrenz shoppten, stöbern sich durch die Angebote. Jacken, Socken, Fußbälle sind die Renner.

Aus der Mode gekommenZahl der Unternehmen im Bekleidungshandel in Deutschland (in Tausend)Quelle: Statistisches Bundesamt

Als Alexander Kauderer und seine Mutter Evelyne am Abend hinten in dem zugestellten kleinen Ladenbüro die Abrechnung machen, haben sie mehr als den zehnfachen Umsatz eines normalen Verkaufstags eingenommen. Ein Rekord, der selbst die Einnahmen in Stoßzeiten vor Ostern und Weihnachten und an verkaufsoffenen Sonntagen in den Schatten stellt. Kauderer registriert die Zahlen, ist erleichtert, gleichzeitig enttäuscht: Hätten die Kunden nicht früher kommen können?

2013 hatte er den Sportladen eröffnet, später die Fläche nebenan übernommen und dort seinen Modeladen einquartiert. Doch irgendwann riss der Kundenstrom ab. Warum? Kauderer überlegt kurz: Den Onlinehandel habe er unterschätzt, Preiskämpfe und das Wetter hätten eine Rolle gespielt. Es ist der Mix aus strukturellem Ungemach und schlichtem Händlerpech, den zuletzt die gesamte Branche zu spüren bekam.

Der lange und heiße Sommer kostete Umsatz. Billiganbieter wie die irische Modekette Primark erobern die deutschen Einkaufsstraßen und erschüttern das Preisgefüge. Onlineplayer befeuern den Kampf um Kundschaft. Die großen Anbieter reagierten zwar und zogen eigene Webshops hoch, vernachlässigten dabei aber ihr Kerngeschäft.

„Der Onlinefokus allein reicht nicht aus“, sagt Christian Gerloff, die stationären Anbieter müssten wieder stärker in ihre Läden investieren. Gerloff war als Insolvenzverwalter und Sanierer bei Krisenfirmen wie Escada, Laurèl und Wöhrl im Einsatz. Seit vergangener Woche ist er auch bei Gerry Weber an Bord. Viele Händler seien „nicht mehr in der Lage, Begehrlichkeiten zu wecken“ oder schnell genug auf neue Trends zu reagieren. „Ein Großteil der Angebote ist austauschbar geworden“, konstatiert Gerloff.

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